56. Grimme-Preis 2020

Die Unerhörten (JABfilm für rbb)

Grimme-Preis an

 

Jean Boué (Buch/Regie)

 

Produktion: JABfilm

Erstausstrahlung: rbb, Sonntag, 25. August 2019, 22.20 Uhr

Sendelänge: 65 Min.

 

Inhalt

Jean Boué drehte seinen Film vor der Landtagswahl in Brandenburg im Wahlkreis 1, Prignitz I. Die dünn besiedelte Gegend sei verrufen als Region, in der „die Faschos wohnen“, heißt es eingangs. Boué, selbst Einwohner, wirft jedoch einen genaueren Blick auf die Begebenheiten vor Ort. Statt das Bild zu bestätigen, arbeitet er Details heraus, die es verändern. Er begleitet die (allesamt männlichen) Direktkandidaten im Wahlkampf. Da ist ein singender CDU-Abgeordneter, der unter Brandenburgs Alleen entlangfährt. Ein SPD-Kandidat, der mit einem Freund und Berater in einem beklebten Wahlmobil übers Land gondelt. Ein Grüner, der im großen Team die Musikeinlagen während seines Wahlkampfs plant. Ein AfD-Mann, der, wie er sich entlocken lässt, die linke „taz“ ausfährt. Und ein Linken-Politiker, der Potsdam die Provinz zu erklären versucht und umgekehrt. Der Film ergründet, warum der ländliche Raum immer weniger mit urban gesteuerter Politik erreichbar scheint. Wir sehen Protagonisten des ländlichen Raums, die sich mit konkreten Fragen (wie der Verengung einer Straßenspur, die Landwirte vor Probleme stellt) auseinandersetzen – und darin eine Gemeinschaft bilden.

 

Stab

Produktion: JABfilm

Produzenten rbb: Rainer Baumert, Günter Thimm

Buch/Regie: Jean Boué

Kamera: Knut Schmitz, Anne Misselwitz

Schnitt: Thomas Wellmann

Ton: Zora Butzke, David Kammerer, Michael Thäle

Musik: Kinbom/Brandenburg

Redaktion: Ute Beutler

 

Begründung der Jury

Es gab in den vergangenen Jahren viele Fernsehbeiträge über Menschen, die von sich sagen, sie seien wütend auf „die Politik“, weil ihnen nicht zugehört werde. Reporter, die sich ihrer annahmen, landeten gerne mal auf einer Pegida-Demo, konnten dort aber vor allem Pöbeleien und Beschimpfungen aufzeichnen. Der Titel „Die Unerhörten“ spielt auf diese Diskursfigur des sich ungehört fühlenden und unerhört benehmenden selbsternannten „besorgten Bürgers“ an.

Aber Jean Boués Film deutet sie um. Wo die Ungehört-Unerhörten sonst auf einer Rechts-Links-Skala ganz rechts verortet werden, geht es hier um das Verhältnis von urbanem Zentrum und ländlicher Peripherie. Die Unerhörten sind hier nicht allein die AfD-Leute, deren Denken so oft die Folie für Beiträge zum Thema ist. Sie sind auch links, grün oder bei der CDU. Boué löst in seinem Film dadurch den Provinzdiskurs von der medialen, diskussionsprägenden Überpräsenz des (neu)rechten Denkens. Er nimmt das ganze politische Spektrum wahr und zeigt seine regionale Vielfalt. Er zeigt habituelle Unterschiede zwischen den Kandidaten. Er zeigt ungewöhnlich anmutende Kooperationen – etwa zwischen dem CDU- und dem Linken-Politiker, die sich mit großer Selbstverständlichkeit zusammentun, um einen Brief an die Ministerin zu schreiben. Und er zeigt Szenen, die nicht zum fertigen Bild zu passen scheinen – etwa einen AfD-Sympathisanten, dem Klimaschutz ein Anliegen ist.

Boué nimmt alle seine Protagonisten gleichermaßen ernst. Er hat ihr Vertrauen. Das ist etwa in jenen Szenen zu spüren, in denen AfD-Anhänger mit ihm sprechen, die ihn nicht als Teil der vermeintlich feindlichen Medienöffentlichkeit zu betrachten scheinen. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass Boué dieses Vertrauen missbraucht.

„Die Unerhörten“ bricht nicht die Bundespolitik aufs Lokale herunter. Es ist eher andersherum: Die kleinen Themen werden in die große Diskussion eingespeist. Die Region jedenfalls darf ihre eigenen Fragen stellen. Gleichwohl ist der Film, der als Beitrag zum gesamtdeutschen politischen Diskurs erkennbar ist, überregional relevant. Er endet – wunderbar gewählt – mit einer halbnah gefilmten Straßenszene: Die Kandidaten kommen in einem Ortskern zusammen, um dort miteinander gegeneinander Wahlkampf zu machen. Einen Bürger, der nach einem Kugelschreiber fragt, schickt der Grünen-Kandidaten etwa lachend zur CDU.

Ein Film zu diesem Thema hätte schwer werden können. Es ist ein leichtgängiger, charmanter Film geworden, mit viel Sympathie für die Region, in der er spielt, und für die unstrategischen Herangehensweisen der Kommunalpolitiker. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Musik, die dem Film eine ungewöhnliche Unbeschwertheit verleiht.

 
Zurück