59. Grimme-Preis 2023

Grimme-Preis Spezial an Caroline Link

für die herausragende Leistung, das Seelenleben von Kindern in „Safe“ als handlungs- und spannungstragendes Erkenntniselement im Buch herauszuarbeiten und in der Regie mit den Kindern gemeinsam zu inszenieren. (Claussen + Putz Filmproduktion für ZDF/ZDFneo)

 

Produktion: Jakob Claussen, Uli Putz

Erstveröffentlichung: ZDFmediathek, ab Freitag, 28. Oktober 2022

Sendelänge: 8 Folgen, je 38 - 46 Minuten

 

Inhalt:

„Safe“ begleitet die Entwicklung von Ronja, Sam, Jonas und Nellie. Ronja ist erst sechs, aber will sich schminken wie eine erwachsene Frau und erzählt von Kneipenbesuchen mit ihrem Vater. Gibt es eine Missbrauchserfahrung? Nellie ist ein Energiebündel, aber hat Panikattacken, die sie kleinredet. Jonas muss damit fertigwerden, dass sein Vater sterben wird. Sam ist in der Schule extrem aggressiv und hasst seine Pflegeeltern – lässt er sich aus dem Selbstzerstörungs-Modus holen?  Obwohl „Safe“ fast ausschließlich in ihrer Berliner Praxis spielt, erfahren wir wenig von den beiden anderen Protagonist:innen, den Kinder- und Jugendtherapeuten Katinka (Judith Bohle) und Tom (Carlo Ljubek). Was wir von ihnen zu sehen bekommen – Katinkas Beziehung mit einem verheirateten Arzt, Toms Wiederannäherung an seine fast erwachsene Tochter – sind nur Zwischenspiele, Pausendarbietungen zwischen den Therapiesitzungen in einer schwer idyllischen Villa mit Garten. Mit Gesprächen und Spielen versuchen die beiden, Zugewandtheit und Sicherheit zu vermitteln. Manchmal kommt Casanova zum Einsatz, Toms wuschelweicher Hund. Caroline Link zeigt in jeder Folge zwei Sitzungen, eine von Katinka, eine von Tom. Sie lässt das Publikum ganz langsam eintauchen in den Prozess, den die Therapie bei den Kindern auslöst, und erzeugt damit eine große, empathische Spannung.

 

Begründung der Jury:

Die Therapiestunde ist längst Stoff für Serien geworden – hier tun sich Dramen und Lebensschicksale auf, und wenn sich das in der Seele Verborgene zeigt, kann das wie die Auflösung eines Krimis sein. Dass „Safe“ internationale Vorläufer hat – „Be Tipul“ aus Israel, „In Treatment“ aus den USA und zuletzt „En thérapie“ aus Frankreich –, dessen ist sich die Serie bewusst. Man möchte sogar die kurze Eingangsszene, in der sich Katinka morgens aus dem Bett erhebt, nur in ein Handtuch gewickelt mit Brille an den Schreibtisch setzt, einen Apfel isst, von ihrem Geliebten beobachtet wird – eine exakte Nachahmung aus „Les choses de la vie“ von Claude Sautet –, als symbolische Verneigung gegenüber dem verstehen, was vorher war. Aber Caroline Link geht mit ihrer Serie „Safe“ einen selbstständigen, ganz anderen Weg, wenn sie das Dramaserien-Konzept Therapie für sich adaptiert. Denn es sind nicht Erwachsene, auf deren Verstrickungen, Traumata und Sehnsüchte sich der Blick des Publikums richtet, sondern Kinder und Jugendliche. Hier ist eine andere Kommunikation gefragt. Caroline Link hat dafür eine frappierend eigene filmische Umsetzung gefunden. Sie verlässt sich, wie andere Therapie-Serien auch, ganz auf das Geschehen in den Sitzungen und zeigt doch durch die Verschiebung des Blicks etwas Neues. Überraschend ist die im deutschen Fernsehen ungewohnte formale Strenge – je zwei Sitzungen, dazwischen kurze Blicke ins Leben von Katinka und Tom –, mit der sie die Serie baut. Überraschend und ungewohnt ist erst mal auch, wie viel Zeit Caroline Link der Erzählung lässt.

Von „Safe“ bleiben faszinierende und irritierende Szenen im Kopf: Wenn die sechsjährige Ronja sich mit Lippenstift und Puder zurechtmacht, dann ist die Grenze fließend zwischen kreativem kindlichem Verkleiden und ihrem verstörenden Wunsch, als „Frau“ gefallen zu wollen. Während Valentin Oppermann (Sam) und Carla Hüttermann (Nellie) bereits Schauspielerfahrung haben, sind Jonte Blankenberg als Jonas und Lotte Shirin Keiling als Ronja noch nicht einmal im Teenageralter. Caroline Link gelingt es mit ihrer Regiearbeit herausragend, die Kinder so zu inszenieren, dass ihr Verhalten vor der Kamera spontan und altersgemäß sprunghaft wirkt, obwohl alles gleichzeitig sehr konsequent der Seelenerzählung in ihrer Dramaturgie folgt, die Entwicklung und Spannung will. Denn natürlich, das ist ein Trick, steht das erwachsene Publikum nur verstandesmäßig mit altersgemäßem Abstand zu den Kindern da. Emotional geht man mit hinein – und zurück – in die Welt der Kinder, in der Seelennöte anders offenbart werden. Als eine Geschichte im Sandkasten zum Beispiel, beim Wüten, Zögern, Ablenken. Das fiktionale Erzählen in diesem Jahrgang ermächtigt Kinder und Jugendliche auf besondere Art. Dazu passt Caroline Links Serie – und ist doch absolut singulär.

 
Zurück