56. Grimme-Preis 2020

Heinrich Breloer

Der Autor und Regisseur Heinrich Breloer steht wie kein anderer für ein Filmgenre, mit dem er im deutschen Fernsehen seit Jahrzehnten Maßstäbe setzt: Ausgehend vom reinen Dokumentarfilm entwickelt er über die Jahre die neuartige Form des Doku-Dramas. Gemeinsam mit dem Regisseur Horst Königstein komponiert Breloer ab den frühen 1980er Jahren eine Synthese aus Filmdokumenten, Interviews und fiktionalen Spielszenen. Breloers Interesse gilt dabei den komplexen Verbindungen von offizieller Geschichtsschreibung und persönlicher Erinnerung. Er nimmt dabei vor allem die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts in den Blick. Anhand biografischer Stoffe gelingt es ihm, historische Entwicklungslinien und Zusammenhänge aufzuzeigen, die über das Leben und Wirken einzelner Personen hinausweisen, ohne jedoch die Bedeutung individuellen Handelns für das große Ganze zu übersehen.

Die Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen bietet auf ihrer Website einen eindrucksvollen Überblick über das Schaffen des 1942 in Gelsenkirchen geborenen Heinrich Breloer. Ausschnitte seines umfangreichen Produktionsarchivs werden dort seit 2012 digitalisiert und der interessierten Öffentlichkeit, der Fachwelt und der Wissenschaft zugänglich gemacht: Produktionsunterlagen, Korrespondenzen, Verträge, Grafiken, Zeichnungen, Transkripte von Interviews, Drehbücher und Storyboards, 3-D-Objekte, Plakate, Fotografien, Presseausschnitte und Bewegtbilddokumente aus 110 Produktionen, die Breloer seit den 1970er Jahren als Autor und Regisseur akribisch erarbeitet und realisiert hat.

Erste Einblicke ins Filmgeschäft erhält Heinrich Breloer in Marl. Sein Vater, ein Müllermeister, eröffnet nach dem Krieg unweit des heutigen Grimme-Instituts das Hotel Loemühle. Als ab 1964 in Marl alljährlich die nach Adolf Grimme benannten Preise für herausragende Fernsehproduktionen verliehen werden und viele Preisträgerinnen und Preisträger im elterlichen Hotel logieren, kommt Breloer während seines Studiums der Literaturwissenschaft und Philosophie regelmäßig mit der Fernsehbranche in Kontakt.

Nach Stationen als Film- und Fernsehkritiker im Hörfunk und bei der Hamburger Tageszeitung beginnt Breloers Karriere als Filmemacher 1972 beim Westdeutschen Rundfunk. Zurückblickend spricht er von den 1970er Jahren als „Training im Dokumentarfilm“. „Kein besonderes Licht aufbauen, die Menschen an ihrem Platz lassen, bloß nicht das Zuhause unserer Gesprächspartner in ein Studio verwandeln.“ Heinrich Breloer geht es darum, eine wirkliche Begegnung festzuhalten. So wie mit der Schauspielerinn Inge Meysel: Mit „Mein Leben war auch kein Spaß – Geschichten und Rollen der Inge Meysel“ entsteht 1975 sein erster Film, den er gemeinsam mit Horst Königstein realisiert.

Der Film „Jährliche Ermahnung“ von 1989 erzählt, wie der Grimme-Preis vom Gründer der Volkshochschule Marl „die insel“, Bert Donnepp, ins Leben gerufen wurde. Breloer kombiniert die Biografie des Gründers mit künstlerisch und politisch bedeutenden Beispielen aus den ersten 25 Jahren des Preises. Sein Film ist eine kleine Fernsehgeschichte, die von den Anfängen des Massenmediums Fernsehen bis Ende der 1980er Jahre erzählt.

Heinrich Breloer bringt uns die neuere deutsche Geschichte nahe, insbesondere indem er Zeitzeugen aufsucht und zu Wort kommen lässt, anstatt sich allein auf geschichtswissenschaftliche Auswertungen zu stützen. „Man kann mit der Geschichte telefonieren“, nennt Breloer es selbst. Für sein Dokudrama „Todesspiel“ (1997) über die Terroranschläge des Deutschen Herbstes etwa spricht er mit mehr als 50 der wichtigsten Beteiligten – vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt, dem Chef des BKA und der Familie Schleyer bis hin zu einigen Mitgliedern der RAF und der Flugzeug-Entführerin Souhaila Andrawes. Dank zahlreicher neuer Erkenntnisse gelingt es ihm, sich auf eine bis dato einzigartige Weise dem Geschehen und der Verfasstheit der Akteure anzunähern und somit dieses wichtige Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte in erzählerischer Form aufzuarbeiten und für die heutige Generation begreifbar zu machen.

Mit „Die Manns – Ein Jahrhundertroman“, verfilmt Heinrich Breloer 2001 Leben und Werk der Familie um Heinrich und Thomas Mann. Eine zentrale Grundlage bilden Interviews mit Thomas Manns jüngster Tochter Elisabeth Mann Borgese an wichtigen Schauplätzen der Familiengeschichte in Europa und Amerika. Diese und andere Gespräche ergänzen den dokumentarischen Hintergrund der Spielszenen mit Armin Mueller-Stahl als Thomas Mann und Monica Bleibtreu als seine Frau Katia. Der Film wird von Marcel Reich-Ranicki als ein „Fernseh-Jahrhundert-Ereignis“ betitelt. Im Jahr 2002 erhält Breloer für den Fernseh-Dreiteiler neben zahlreichen weiteren nationalen und internationalen Preisen den Emmy-Award, den bedeutendsten Fernsehpreis in den USA, der damit erstmals an eine deutsche Produktion verliehen wird.
Mehrfach ausgezeichnet wird auch Breloers Doku-Drama „Speer und Er“ von 2005 über den Architekten Albert Speer und seine Beziehung zu Adolf Hitler. Bereits 1981 hatte Heinrich Breloer mit den Recherchen zu dieser Produktion begonnen, als er Speer noch kurz vor dessen Tod persönlich begegnete. Gespräche mit Zeitzeugen und Statements von Fachhistorikern ergänzen die szenische Lebenserzählung, die Speer als Künstler, Technokraten und Kriegsverbrecher zeigt.

2019 strahlte der Fernsehsender ARTE Heinrich Breloers Zweiteiler über das Leben und Wirken des Lyrikers und Dramatikers „Brecht“ aus. Das Dokudrama verdeutlicht, dass jedes Urteil über das Handeln von Menschen von der Zeit abhängt, in der es gefällt wird. Neun Jahre lang hatte Breloer mit Brechts Weggefährten, mit Geliebten, Familienmitgliedern und Freunden, Schülern, Verbündeten und Verstoßenen gesprochen und 120 Aktenordner voller Dokumente gewälzt. 

Heinrich Breloer steht für mehr als vier Jahrzehnte herausragendes Fernsehschaffen. Mit seinem umfangreichen und vielfach ausgezeichneten filmischen Œuvre hat er ein eigenes Genre begründet und Fernsehereignisse geschaffen. Der Film ist für ihn das Protokoll einer Suche nach der Begreifbarkeit historischer Vorgänge, an der er uns als Zuschauende beteiligt und so im besten Sinne bildet. 
Mit der Besonderen Ehrung für Heinrich Breloer zeichnet der Deutsche Volkshochschul-Verband als Stifter des Grimme-Preises einen inszenatorisch virtuosen, akribischen, handwerklich hochversierten Fernsehkünstler aus, der die Zusammenhänge menschlicher Biografien und gesellschaftlicher Verhältnisse offenlegt. Der Geehrte zeigt auf seine ganz eigene Art und Weise, wie qualitätvolles Bildungsfernsehen aussehen kann und wie Dokudramen uns mitnehmen können, die deutsche Geschichte in all ihrer Vielschichtigkeit zu ergründen.

 
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