58. Grimme-Preis 2022

Psychische Gesundheit, Klassismus und Verarmung im Fokus

Lucia Eskes (Leiterin Grimme-Preis), Preisträger Bjarne Mädel und Daniel Donskoy, Dr. Frauke Gerlach (Direktorin Grimme-Institut), Preisträger*innen Nele Dehnenkamp und Torsten Körner (von links nach rechts). Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut [weitere Fotos am Ende dieser Seite]

Am Dienstag, den 31. Mai 2022, fand nach zweijähriger Pause erstmalig  wieder die Pressekonferenz zur Bekanntgabe der Grimme-Preisträger:innen im Grillo-Theater in Essen statt. Die Moderation übernahm die Schriftstellerin, freie Journalistin und Grimme-Jurorin Jenni Zylka.

Pressevertreter:innen, Jurymitglieder und Preisträger:innen waren geladen, um das Fernsehjahr 2021 Revue passieren zu lassen und die bepreisten Produktionen vorzustellen.

Zum Auftakt der Pressekonferenz sprach Jenni Zylka mit der Direktorin des Grimme-Instituts, Dr. Frauke Gerlach, über das Fernsehjahr. „Wir blicken zurück auf ein vielschichtiges Jahr. Ein Jahr, das sehr stark fokussiert war auf die psychische Gesundheit und vielseitige Lebenskrisen, die Herz und Verstand der Menschen erreichen. Ein Jahr, in dem die Themen Krieg und Flucht größtenteils aus den Headlines der Medien verschwunden waren, sich allerdings in den bepreisten und nominierten Produktionen widerspiegeln. Ein Jahr, in dem sich außerdem queere Communities mehr und mehr durch alle Kategorien des Grimme-Preises hinweg wiederfinden können“, so Gerlachs Fazit.

Für die Kategorie Kinder & Jugend stellte die stellvertretende Vorsitzende der Jury, Gudrun Sommer, fest, dass im Vergleich zu den vergangenen Jahren keine wesentlich neuen Themen aufgegriffen wurden, weiterhin standen Vielfalt, Rassismus und Flucht im Fokus. Jedoch beobachtete die Jury, dass Diversität in dieser Kategorie immer mehr an Normalität gewinne und sich dadurch von dem so genannten Erwachsenenfernsehen unterscheide.

Diese Kategorie benötige ein besonderes Verständnis, denn die Kinder und Jugendlichen bewegen sich in neuen Formaten, sie nutzen verstärkt das ,‚neue Fernsehen‘‘. „Unser Verständnis von Fernsehen wird von der Social Media-Welt ,angegriffen‘, der Spezialpreis ist hier ein gutes Beispiel für hervorragende Nutzung von Crossmedialität. Allerdings merkt man auch, dass das ruhige, bedächtige und unaufgeregte Erzählen genau richtig ist, wenn beispielsweise von schwierigen Themen wie einer Flucht berichtet wird, so wie es bei der Produktion ,Seepferdchen‘ der Fall ist.‘‘

Die Idee zum besagten Kurzfilm kam der anwesenden Autorin und Regisseurin Nele Dehnenkamp, nachdem sie in einem Artikel gelesen hatte, dass viele Kinder, die über das Mittelmeer nach Europa fliehen, nicht schwimmen können. „Ich habe das Gefühl, dass das Grauen, das auf dem Mittelmeer geschieht, immer mehr in Vergessenheit gerät und auch ich habe bemerkt, dass ich eine gewisse emotionale Abgestumpftheit entwickelt habe. Dieser Kurzfilm soll einen neuen emotionalen Zugang zu dieser Problematik schaffen.‘‘

Amna Franzke, die Vorsitzende der Jury Unterhaltung, fand sowohl lobende als auch kritische Worte zum Unterhaltungs-Fernsehjahr 2021: „In diesem Jahr hat uns als Jury total begeistert, dass Shows nicht nur ‚schnell, schnell‘ produziert wurden, sondern wirklich mit Liebe zum Detail. Auch die großen und schweren Themen fanden ihren Platz, in Talkshows, aber auch in Showformaten, wie ‚Wer stiehlt mir die Show?‘‘‘.

Im Hinblick auf Diversität sei das Fernsehen weiterhin noch nicht gut aufgestellt, weder was das Geschlechterverhältnis angehe noch im Hinblick auf den Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund, so Franzke. Es reiche nicht aus, nur eine Figur in eine Serie zu schreiben, die einen Migrationshintergrund hat, sondern Geschichten müssten aus anderen Perspektiven erzählt werden. „Das Fernsehen spiegelt noch nicht unsere Gesellschaft wider.‘‘ Eine Ausnahme in diesem Preisjahr war hier die Show „Freitagnacht Jews“.

Moderator und Autor von ,,Freitagnacht Jews‘‘, Daniel Donskoy, berichtete auf dem Podium, dass es nicht immer einfach war, Gäste für die Show zu finden. Viele Jüd:innen hätten nie die Erfahrung gemacht, dass mit dem Thema Jüdischsein bedacht und sorgsam umgegangen werde, so Donskoy. Allerdings spreche er in seiner Show auch Themen an, die wehtun. Er und seine Gäste „sind frech, laut und lustig, ein Trigger für manche.“ So müssen er und seine Gäste oft Antisemitismen erfahren, die subtil und damit insgesamt unangenehmer und ekeliger seien als offensive Anfeindungen.

Anne Burgmer, Vorsitzende der Jury Information & Kultur, berichtete, dass die Jurysitzungen, die neun Tage nach dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine begonnen haben, natürlich sehr unter diesem Eindruck gestanden haben. Es wurde noch einmal deutlich, „dass Produktionen, die thematisch Krieg und Flucht behandeln, weiterhin von höchster Bedeutung sind, denn Geschichte ist nicht einfach vergangen, sie beeinflusst uns alle auch heute“, so Burgmer.

Bei der Beurteilung der Besonderen Journalistischen Leistung war eine der großen Herausforderungen, die Arbeit der Korrespondent:innen zu vergleichen. Bei Katrin Eigendorf sei ,,sehr eindrücklich zu sehen, wie weit sie geht, welche Themen sie einbringt und abdeckt.‘‘ Eigendorf bringe auch vergessene Themen wieder in den Vordergrund.

Als Preisträger aus der Kategorie Information & Kultur war der Autor des Dokumentarfilms „Schwarze Adler“, Torsten Körner, zu Gast in Essen. Ein besonderer Moment für ihn, der selbst lange Jahre Mitglied in den Jurys des Grimme-Preises war und nun selbst mit einem Preis ausgezeichnet wird. Körner berichtete, dass die Dreharbeiten auch für das Produktionsteam eine große emotionale Herausforderung dargestellt haben. „Jeder Einzelne muss sich selbst fragen, inwieweit Rassismen in einem stecken, jeder muss sich dieser Frage stellen, an jedem Tag.‘‘ Denn auch er selbst musste sich fragen, ob er nicht ebenfalls Teil des Problems sei: „Hat man die Rufe früher nicht gehört oder hat man sie ausgeblendet?‘‘

Für die Jury Fiktion berichtete der Vorsitzende Patrick Presch über die Arbeit des Gremiums. So spielte im letzten Jahr die Corona-Pandemie eine untergeordnete Rolle, so Presch, anders als 2020. Allerdings wurden die Auswirkungen auf einzelne Produktionen spürbar, etwa, dass einige Sets verkleinert und aus Ensemblefilmen Kammerspiele wurden. Auswirkungen der Pandemie wie die Zunahme von depressiven Erkrankungen wurden indes in den Produktionen sichtbar. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt lag im Klassismus. Die nominierten und bepreisten Produktionen widmeten sich häufig der Frage, was mit den Menschen geschehe, die am Existenzminimum leben und in einer Art moderner Sklaverei stecken.

Ein Beispiel dafür ist die Produktion „Geliefert“, für die Bjarne Mädel einen seiner beiden diesjährigen Grimme-Preise erhält. Er spielt einen Paketboten und Vater eines Sohnes. „Mit dem alleinerziehenden Vater, der an sich zweifelt, der schuftet und dem es doch nicht gelingt, sich und seinem Sohn ein finanziell abgesichertes Leben zu ermöglichen, zeigt der Film uns immer auf Augenhöhe mit seinem Protagonisten, wie die Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen in Deutschland aussieht,“ befand die Jury in ihrer Begründung. „Anders als erwartet, hat uns diese Pandemie nicht dazu bewegt, darüber nachzudenken, was wirklich benötigt wird, sondern es wurde mehr bestellt als je zuvor,‘‘ so Mädel. Mit diesem Fernsehfilm soll unser Blick auf die Berufssparten Kassierer:innen, Pfleger:innen, Paketbot:innen usw. gelenkt werden. „Wir haben keinen anderen Wert als die Menschen, die uns die Sachen bringen, wir müssen unseren Blick öffnen für die Berufe in der Dienstleistungsbranche.‘‘ Bjarne Mädel, der selbst während seines Studiums als Paketzusteller gearbeitet hat, mahnte, dass diese Produktion der Realität entspreche und die Szenen nicht übertrieben dargestellt seien. ,,Es ist das wahre Berufsleben der Zusteller, wenn man keine Zeit hat, zur Toilette zu gehen oder etwas zu essen.‘‘

Mit der zweiten Produktion, für die er mit einem Grimme-Preis ausgezeichnet wird, gab Mädel im vergangenen Jahr sein Regiedebüt. „Sörensen hat Angst‘‘ zeigt uns einen Kommissar, der an einer Angststörung erkrankt ist. „Aus diesem Film hätte schnell einen ‚Schmunzel-Krimi‘ entstehen können,“ so Mädel, dies sei aber nicht sein Ansatz gewesen. Er wollte einen 90-Minüter machen, der wie ein Kinofilm aussehen sollte und nicht wie ein Fernsehfilm. „Der Film sollte sich anfühlen wie eine Angststörung.“ Sein Anspruch war es, über Angsterkrankungen aufzuklären, um kontraproduktiven Aussagen („Stell dich nicht so an!‘‘) vorzubeugen. „Der Krimi ist nur als roter Faden gedacht, die krankhafte Angst des Protagonisten ist das Hauptthema. Es gibt viele Nahaufnahmen von Sörensens Kopf, denn dort sitzt die Angst. Die gesamten kreativen Ideen entsprangen daraus – da hatte der Humor keinen Platz mehr.‘‘

 
Gruppenbild mit Preisträger*innen, Jurymitgliedern, Preisleitung und Institutsleitung. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträgerin Nele Dehnenkamp. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträger Daniel Donskoy. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträger Torsten Körner. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträger Bjarne Mädel. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträger Bjarne Mädel. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Dr. Frauke Gerlach (Direktorin Grimme-Institut), Jenni Zylka (Jurymitglied Information & Kultur, freie Journalistin und Schriftstellerin). Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Dr. Frauke Gerlach (Direktorin Grimme-Institut) Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Gudrun Sommer (Jury Kinder & Jugend) Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträgerin Nele Dehnenkamp im Gespräch mit Jenni Zylka. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträgerin Nele Dehnenkamp, Moderatorin Jenni Zylka. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Amna Franzke (Jury Unterhaltung). Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträger Daniel Donskoy im Gespräch mit Jenni Zylka. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Anne Burgmer (Jury Information & Kultur) Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträger Torsten Körner. Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Preisträger Bjarne Mädel, Patrick Presch (Jury Fiktion). Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut
Patrick Presch (Jury Fiktion), Preisträger Bjarne Mädel und Jenni Zylka (Moderation). Foto: Georg Jorczyk / Grimme-Institut