59. Grimme-Preis 2023

Im Feuer – Zwei Schwestern

(Pallas Film/Match Factory Productions/View Master Films für ZDF/ZDF – Das kleine Fernsehspiel/ERT/ARTE)

 

Grimme-Preis an:

Daphne Charizani (Buch/Regie)

Almila Bagriacik (Darstellung, stellv. für das Ensemble)

 

Produktion: Martin Hampel

Erstausstrahlung: ARTE, Donnerstag, 15. September 2022, 22.35 Uhr

Sendelänge: 94 Minuten

 

Inhalt:

Rojda Xani lebt seit ihrer Kindheit in Deutschland, ist gebürtige Kurdin und arbeitet als Soldatin bei der Bundeswehr. Als sie ihre Mutter, die bereits zum zweiten Mal ihre Heimat verlassen musste, aus einem griechischen Flüchtlingscamp abholt, stellt sie bestürzt fest, dass ihre Schwester Dilan nicht mitgekommen ist. Getrieben vom Wunsch, Gewissheit über den Verbleib der Schwester zu erlangen – ein kurzes Telefonat mit ihr bestärkt den Entschluss – stellt Rojda einen Versetzungsantrag in die Region um die Stadt Erbil. Denn dort, im Nordirak, vermutet sie ihre Schwester an einem geheimen Stützpunkt der Peschmerga. Mit einer Empfehlung ihres Vorgesetzten gelingt ihr der Transfer. Als Übersetzerin unterstützt sie ihre Kollegen bei der militärischen Ausbildung der Soldatinnen. Rojda hat zunächst Schwierigkeiten, sich einzugewöhnen. Doch sie gewinnt langsam das Vertrauen der Frauen und wagt sich weiter vor: „Kennt ihr Dilan? Wisst ihr, wo ich sie finden kann?“ Als ihr schließlich der Zugang zum Stützpunkt der Untergrundmiliz gelingt und sie tatsächlich auf ihre Schwester trifft, ist das Schicksal beider Frauen bereits besiegelt, denn Dilan hat nicht vor, das Land zu verlassen.

 

Begründung der Jury:

Im Kriegsgebiet. Rojda läuft zögernd weiter. Ihre Augen wandern über den Rand der Vertiefung, die vor ihr aufklafft. Der Boden wirkt uneben. Sie hält inne, ist unsicher, ob sie weitergehen soll. Rojda senkt ihren Kopf. Ihr Blick ist sprunghaft, irgendetwas passt nicht ins Bild. Seltsame kleine Hügel erheben sich wahllos auf dem Feld. Unentschlossen geht sie ein paar Schritte. Plötzlich glaubt sie, unter Erdklumpen das Muster vom Tuch ihrer Schwester zu entdecken und greift danach. Ihr wird klar, wo sie sich gerade befindet: inmitten eines Massengrabs.

Es sind eindrucksvolle Szenen wie diese, die erkennen lassen, wie Daphne Charizani es mit unverstellten Bildern schafft, in ihrem Film „Im Feuer – Zwei Schwestern“ die Auswirkungen von Krieg zu thematisieren, und dabei insbesondere die daraus resultierenden Folgen für die Biografien der betroffenen Menschen sichtbar zu machen. Die Beziehung zweier Schwestern bildet das Grundgerüst der Erzählung. Rojda, die jüngere der beiden, blieb damals mit dreizehn Jahren in Deutschland. Dilan und die Eltern kehrten zurück in ihre Heimat. Entscheidungen, die das Leben beider Schwestern geprägt haben. Der Film verwebt gekonnt die unterschiedlichen Motivationen der starken Figuren, die auf der Suche sind und sich fragen: Wo ist meine Heimat? Bei der Familie? Oder im Land, für das ich kämpfe? Wo will und wo kann ich zugehören?

Charizani, verantwortlich für Buch und Regie, gelingt es auf besondere Weise, mit wenigen Worten viel zu erzählen und die Settings überzeugend zusammenzuhalten. Die konzentrierten Dialoge geben den handelnden Figuren viel Raum, ohne dabei in einseitige politische Tendenzen zu verfallen oder die Komplexität der Themen um jeden Preis auflösen zu wollen. Die Kamera ist immer nah dran an Rojda, auf der Suche nach ihrer Schwester und sich selbst, eine beeindruckende schauspielerische Leistung von Almila Bagriacik. Durch den quasi-dokumentarischen Stil entsteht eine poetische Bildwelt, die die Ambivalenz und die Zerrissenheit der Figuren mit Bedacht spiegelt. Der Moment des Zufalls ist als dramaturgisches Mittel gekonnt inszeniert, da dieser so unweigerlich an den fatalen Fortgang der Geschichte der beiden Schwestern gekoppelt ist.

Das Drama verhandelt nicht zuletzt ein Stück Zeitgeschichte bis ins Jetzt hinein: der erbitterte Kampf des kurdischen Volkes um Anerkennung und das eigene Land. Der Film liefert auf die verhandelten Themen keine eindeutigen Antworten, sondern beschreibt diese auf emotionaler Ebene besonders eindrücklich und fokussiert vortrefflich die äußeren wie inneren Konflikte der Akteur:innen. Dass sich daraus eine Erzählung mit dieser Kraft entwickeln kann, ist einer herausragenden schöpferischen Leistung zu verdanken und damit überaus preiswürdig.

 
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