58. Grimme-Preis 2022

Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen

(hr)

 

Grimme-Preis an

 

Marcin Wierzchowski (Buch/Regie/Bildgestaltung)

 

Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
ARD Mediathek, Mittwoch, 17. Februar 2021, 00.00 Uhr

Lauflänge: 47 Minuten

 

Inhalt

„Hanau – Eine Nacht und ihre Folgen“ ist mehr als eine Rekonstruktion des rassistischen Anschlags in Hanau am 19.02.2020. Marcin Wierzchowski zeichnet die Geschehnisse dieser Nacht präzise nach, beschränkt sich aber nicht allein darauf.

Der Film zeigt die an die Tatnacht anschließenden Verarbeitungsprozesse der Hinterbliebenen und der Überlebenden. Sie erzählen von den Ereignissen der Nacht und darüber hinaus. Warum war der Notruf nicht erreichbar? Weshalb war der Notausgang der Arena Bar verschlossen? Wieso fanden Obduktionen der Opfer ohne Einwilligung der Angehörigen statt? Fragen, die bis heute teilweise unbeantwortet geblieben sind.

Die Strategien der Bewältigung sind vielfältig und oft persönlich. Es sind Zimmer, die nicht umgeräumt werden, Smartphones, die noch immer täglich aufgeladen werden, oder das Schreiben von Songs. Doch auch auf einer politischen Ebene wird das Ringen um Aufklärung deutlich. Die Protagonist:innen gründen eine Bildungsinitiative, sie organisieren Kundgebungen und setzen sich gemeinsam für Ermittlungen ein. 

 

Begründung der Jury

„Tot sind wir erst wenn man uns vergisst.“ Dieser Satz stammt von Ferhat Unvar, einem der neun Opfer des rassistischen Anschlags in Hanau am 19.02.2020. Binnen zwölf Minuten wurden in dieser Nacht er und acht weitere Menschen getötet. Der Film zeigt die Wunden, die für viele Menschen noch lange nicht verheilt sind und auch nie verheilen werden – gerade in Zeiten, in denen diese Morde auf der medialen Agenda nicht mehr täglich präsent sind – und versucht so, dem Vergessen entgegenzutreten. Marcin Wierzchowski gibt den Angehörigen den Raum, ihre eigenen Emotionen, Sichtweisen und Gedanken darzulegen, ihre konkreten und – auch ein Jahr nach der Tat – weiterhin teilweise unbeantworteten Fragen zu stellen.

Ruhig und fokussiert nähert er sich seiner Thematik. Dabei ist er klar in seinen Aussagen, welche unter anderem aus dem nüchternen Kommentar hervorgehen. Die Vielzahl der aufgeworfenen Fragen stimmt fortwährend nachdenklich, die Worte der interviewten Angehörigen und Überlebenden hallen nach, sie erzeugen Gefühle von Scham und Bedrücktheit.

Ihre Schilderungen wirken eindringlich, die reduzierte formale Umsetzung unterstützt diese Eindringlichkeit. Die Kamera fokussiert über weite Teile hinweg die Sprecher:innen selbst, folgt ihnen zu für sie wichtigen Orten oder fährt die Straßen der Stadt ab.

Marcin Wierzchowski hält konsequent die Perspektive der Überlebenden und Angehörigen ein und zeigt ihre Probleme auf. Ihm gelingt es, die Ebene des persönlichen Leidens in eine angemessene Relation zu fundamentalen gesellschaftlichen Problematiken wie strukturellem Rassismus zu setzen. In seiner sachlichen Haltung verliert er jedoch nie den empathischen Blick für seine Protagonist:innen.

Der diskursive Zugewinn dieses kurzen und dichten Werkes wird anhand der Darstellung der Interviewten ersichtlich. Sie wurden verwundet, sie sind getroffen. Nichtsdestotrotz sind sie nicht ohnmächtig oder verharren in Trauer, sondern kämpfen gegen alle fortwährenden Widrigkeiten für Aufklärung und Gerechtigkeit. Die Beharrlichkeit, mit der sich Marcin Wierzchowski dieser Thematik widmet, ist beeindruckend und verdienstvoll. Das Vertrauen, das dem Filmemacher entgegengebracht wird, ist deutlich erkennbar.

Nicht zuletzt besteht die filmische Leistung in dem Gedenken an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili-Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Sie sind hier mehr als Namen: Sie sind Menschen, mit Familie, Freund:innen, Arbeit, Hobbys – Menschen mit einer Geschichte, denen ihre Zukunft genommen wurde.

 
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