58. Grimme-Preis 2022

Geliefert

(TV60 Filmproduktion für BR/ARTE)

 

Grimme-Preis an

 

Jan Fehse (Buch/Regie)

Bjarne Mädel (Darstellung)

 

Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
ARTE, Freitag, 27. August 2021, 20.15 Uhr

Lauflänge: 89 Minuten

 

Inhalt

Der Paketzusteller Volker (Bjarne Mädel) ist ein hilfsbereiter Mensch mit moralischem Kompass. Seine Schichten sind lang, aber das Geld reicht trotzdem kaum für ihn und seinen Sohn Benny (Nick Julius Schuck), den er alleine erzieht. In seiner Freizeit trainiert er ehrenamtlich eine erfolglose Fußballjugendmannschaft, in der auch Benny spielt. Als dessen Schulabschluss gefährdet ist, schließen Vater und Sohn einen Pakt: Wenn Benny seine Leistungen in der Schule steigert, bringt Volker das Geld für die Abschlussfahrt auf. Aber statt zu lernen, hängt Benny lieber mit seinen Freunden ab und stiehlt an einer Tankstelle auch noch Alkohol. Im anschließenden Streit droht er zu seiner besser situierten, aber alkoholabhängigen Mutter zu ziehen. Um dies zu verhindern, nimmt Volker einen illegalen zweiten Job an, den er während seiner Touren ausübt. Die Lage wird immer auswegloser. Er wird geblitzt und muss mit einem Fahrverbot rechnen, außerdem entlässt ihn sein Chef, als er von der Schwarzarbeit erfährt. Nachdem Benny beobachtet hat, wie Volker Gemüse aus dem Müllcontainer eines Supermarktes holt, zieht er zu seiner Mutter und bricht den Kontakt zu ihm ab. Doch statt zu verzweifeln, pachtet Volker das heruntergekommene Vereinsheim und auch Benny kommt wieder zum Training.

 

Begründung der Jury

Ein Paket wird geliefert. Man sieht von oben in ein trapezförmiges Treppenhaus. Der Blick wird nach unten gezogen und verliert sich in einer eckigen Spirale aus Geländer und Stufen. Ganz unten bewegt sich etwas. Die Perspektive wechselt und man schaut nach oben, die Kamera ist dem Paketzusteller Volker auf den Fersen. Ab diesem Moment ist die Arbeit zu hören: der sich verändernde Rhythmus der Schritte, sein zunehmendes Keuchen je höher er steigt. Immer wieder wechselt der Film zwischen diesen beiden Perspektiven. An jedem Treppenabsatz vermischen sich die Geräusche hinter den Wohnungstüren mit dem Soundtrack der Arbeit: Stimmen, Kindergeschrei, Hundegebell. Endlich oben angekommen, wischt sich Volker den Schweiß von der Stirn, klingelt, nur um dann angeraunzt zu werden. Das Paket wird nicht angenommen.

Das Paket steht sinnbildlich für die Sorgen, die Volker zu schleppen hat: Er sorgt sich um seinen pubertierenden Sohn, den er vor der Alkoholsucht der Mutter beschützen will, für den er sich abrackert und deshalb zu wenig Zeit für ihn hat. Gezeigt werden die Auswirkungen von prekären Arbeitsbedingungen auf das Familienleben; trotz langer Arbeitszeiten bewegt sich Volker am Existenzminimum, hat ständig Geldsorgen. Der Film zeigt auch eindrücklich seinen Kampf um Würde: Er holt lieber heimlich nachts Gemüse aus dem Supermarkt-Müllcontainer, als seine Not seinem Sohn oder den Kollegen zu offenbaren.

Die Geldnot führt in einen Teufelskreis: zu noch mehr Arbeit, zu noch schlechteren, weil illegalen Bedingungen und letztendlich in die Arbeitslosigkeit. Jan Fehse (Drehbuch und Regie) findet mit dem eckigen und doch spiralförmigen Treppenhaus eine Ästhetik für die perfiden Bedingungen des modernen Prekariats. Diese wird auch auf narratologischer Ebene fortgeführt; Volkers Leben wird als eine Geschichte der stillstehenden Entwicklung erzählt und inszeniert. Das Drehbuch vermeidet eine Romanze, die sich mit der Polizistin Lena (Anna Schäfer) hätte anbahnen können, da sie eben kein Auge zudrückt, als ein Fahrverbot droht, es verwehrt den Zuschauenden die Entlastung, die diese hätte bieten können, es verweigert sich stereotypen Erzählmustern.

In 90 Minuten gelingt ein realistischer Blick auf das moderne Prekariat, auch die Pandemie klingt an. Mit dem alleinerziehenden Vater, der an sich zweifelt, der schuftet und dem es doch nicht gelingt, sich und seinem Sohn ein finanziell abgesichertes Leben zu ermöglichen, zeigt der Film uns immer auf Augenhöhe mit seinem Protagonisten, wie die Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen in Deutschland aussieht. Figurenkonstellationen und Familienkonflikte, die nicht alltäglich im Fernsehen zu sehen sind, werden realistisch und glaubwürdig erzählt. Bjarne Mädel hat durch sein facettenreiches Schauspiel einen großen Anteil daran. Durch die alltäglichen Situationen werden wir, die Zuschauenden, involviert in das Geschehen: Wir sind diejenigen, die bestellen, die die Arbeitsbedingungen der Paketzustellenden hinnehmen und nicht hinterfragen.

 
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