57. Grimme-Preis 2021

Wir wären andere Menschen

(Akzente Film & Fernsehproduktion für ZDF)

 

Grimme-Preis an

 

Friedrich Ani (Buch)

Ina Jung (Buch)

Jan Bonny (Regie)

Matthias Brandt (stellv. für das Ensemble)

 

Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
ZDF, Donnerstag, 06.08.2020, 23.15 Uhr

Lauflänge: 88 Min.

 

Inhalt

Rupert Seidlein (Matthias Brandt) zieht mit seiner Frau Anja (Silke Bodenbender) nach Jahrzehnten wieder in sein Elternhaus in der Provinz, in dem er einst Zeuge eines verheerenden Polizeieinsatzes geworden ist: Nach ein paar Bier hatten sich die beiden Polizisten Horn (Manfred Zapatka) und Bäumler (Paul Faßnacht) illegal Zutritt zum Haus verschafft, die Situation eskalierte und sie erschossen daraufhin seine Eltern und seinen Jugendfreund Pjotr. Um die Polizeigewalt zu vertuschen, setzten im Anschluss Ermittler und Richter den stark traumatisierten Teenager unter Druck, kreierten einen alternativen Tathergang und sprachen die Polizisten frei. Das Ereignis hat nicht nur Ruperts Leben zerstört, sondern auch das seiner Frau, was sich in übermäßigem Alkoholkonsum und starken Gefühlsschwankungen äußert. Beide suchen nun die Nähe der Täter: Anja um zu reden und Rupert um sie umzubringen. Erst ertränkt er Horn im Rhein, der angebliche Unfall wird nur von dem externen Kommissar Wackwitz (Andres Döhler) bezweifelt. Danach erschießt er Bäumler und dessen Frau und inszeniert die Tat als Ehedrama mit anschließendem Selbstmord. Doch die erhoffte Erleichterung setzt nicht ein. Rupert gesteht seiner Frau die Morde und stellt sich anschließend der Polizei.

 

Begründung der Jury

Wir wären andere Menschen ist ein großartiger und packender Film, der das Thema Polizeigewalt in die deutsche Provinz verlegt. Seziert wird, wie sich Gewalterfahrungen auf Menschen sowie deren Beziehungen auswirken und sogar in Orte einschreiben. Die erstarrten Strukturen der Provinzgesellschaft, in der jede*r jede*n vermeintlich kennt, sorgen dafür, dass der eskalierte Polizeieinsatz nicht vergessen werden kann. Das Trauma wird zementiert, weil die Tat durch Polizei und Justiz nicht aufgearbeitet wird und stattdessen die beiden Polizisten freigesprochen werden. Beide können ihr Leben weiterleben, während Ruperts Leben aufhört, bevor es richtig begonnen hat. Diesen Anachronismus zwischen Stillstand des Lebens und Älterwerden spielt Matthias Brandt so überzeugend und mit solch einer unglaublichen Tiefe, dass der traumatisierte Junge im Erwachsenenkörper immer wieder sichtbar wird.

Die starren Verflechtungen führen dazu, dass jede zwischenmenschliche Interaktion zu spannungsreichen Konsequenzen für alle führt. An der dichten Erzählung hat das auf Anis Erzählung Rupert basierende Buch von Friedrich Ani und Ina Jung großen Anteil. Dass daraus ein exzeptioneller Film entsteht, liegt an der mitreißenden Inszenierung von Jan Bonny, der auch die Kontraste zwischen Bild und Ton voll ausschöpft. Jedes Szenenbild ist so bedrückend westdeutsch, zum Beispiel der Tennisclub oder Ruperts Elternhaus, ohne dass diese Kunstfertigkeit ausgestellt und zum Selbstzweck wird. Das sind Orte, die jede*r kennt, die aber so im Fernsehen nicht oft zu sehen sind. So entsteht ein Hyperrealismus, ein Sittengemälde der deutschen Provinz, das an US-amerikanische Produktionen wie die Fargo-Serie erinnert.

Rupert wird vom Opfer zum Täter und bleibt doch Opfer, denn die Morde, die er begeht, ändern nichts. Das Trauma hat nicht nur ihn zerstört und sprachlos gemacht, sondern auch seine Frau. Durch die Liebe zu einem stark traumatisierten Mann ist die Sprachlosigkeit auf sie übergesprungen. Silke Bodenbender spielt eine Frau, die sich hinter zu lautem Lachen versteckt. Nur einmal hätte sie fast ihr Leid herausgeschrien, aber sie unterdrückt den Schrei. Das Publikum folgt den Figuren, die durch ihre Charakterzeichnung und das überragende Schauspiel des gesamten Ensembles menschlich wirken. Allein eine Figur sticht aus den fein tarierten Figurenzeichnungen heraus, und das ist der Kommissar, gespielt von Andreas Döhler. Von außerhalb kommend kann er die verkrusteten Strukturen sehen und vielleicht deshalb die unangenehmen Fragen stellen. Aber zur Wahrheit gehört, dass dieser Polizist so ermittelt, weil seine Kollegen ermordet wurden. Damit schreibt er die Geschichte der Eskalation fort, nur diesmal auf der anderen Seite.

 
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