57. Grimme-Preis 2021

Loveparade – Die Verhandlung

(DOCDAYS Productions/Arpa Films für WDR/ARTE)

 

Grimme-Preis an

 

Antje Boehmert (Buch/Produktion)

Dominik Wessely (Regie)

 

Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
ARTE, Mittwoch, 15.07.2020, 22.00 Uhr

Lauflänge: 89 Min.

 

Inhalt

Am 24. Juli 2010 sterben in Duisburg auf den Zu- und Abgängen des „Loveparade“-Festivalgeländes 21 Menschen, über 600 werden verletzt. Dieser Rave ist nicht irgendein Sommerfestival, sondern zu diesem Zeitpunkt zum Millionenevent und Wirtschaftsfaktor gewachsen. Die Opfer stammen aus Europa, China und Australien. Die juristische Aufarbeitung der Katastrophe, die erst kurz vor der Verjährung schließlich fast zehn Jahre später zur Prozesseröffnung führt, wird vielen zum Paradebeispiel einer skandalös blinden Justitia – und einer Prozessrechtspraxis, die als schleppend und unzulänglich empfunden wird. Erst am 4. Mai 2020 geht das Verfahren vor dem Landgericht Duisburg nach 184 Tagen zu Ende. Ohne Urteil. Die gefühlten Hauptverantwortlichen waren nicht angeklagt. Wer Schuldige und Gerechtigkeit suchte, muss weitersuchen. Unaufgeklärt bleiben Motive des Veranstalters und der Genehmigungsbehörden. Ist der Prozess deswegen gescheitert?

Der Film „Loveparade – Die Verhandlung“ von Dominik Wessely und Antje Boehmert zeigt in bestechend aufklärender, trotzdem empathischer Weise, warum die zuständige Kammer dem Recht hier eben keinen Bärendienst erwiesen, sondern in präziser und höchst detaillierter Arbeit auch die Grenzen des Prozessrechts vermessen hat – im Dienst der Öffentlichkeit.

 

Begründung der Jury

Dies ist die herausragend gelungene Dokumentation der schwierigen juristischen Aufarbeitung der tödlichen Massenpanik in Duisburg 2010. Zugleich aber ist sie es nicht, sofern man darunter die Beantwortung aller offenen Fragen, die sichere Zurechnung von rechtlicher Verantwortung und einen eindeutig versöhnenden Ausblick für die trauernden Hinterbliebenen versteht. Wenn man diesen Film gesehen hat, kann man davon ausgehen, dass dem Gerechtigkeitsgefühl vieler Angehöriger im Verfahren nicht genüge getan wurde. Und doch wurde Ordnung hergestellt, ein übergeordnetes Rechtsziel.

Der Film „Loveparade – Die Verhandlung“ macht es mit exemplarischer Sachlichkeit, die Tatsachen und Emotionen aus vielen Perspektiven genau beleuchtend, deutlich: Das am 4. Mai 2020 vor dem Duisburger Landgericht ohne Urteil beendete Verfahren war kein skandalöses, sondern ein die Rechtsgrundsätze konsequent anwendendes. Dass es sich die Kammer nicht leicht gemacht hat, zeigt sich in zahllosen, wie Zeugenaussagen in Szene gesetzten Kommentaren des Richters und der Staatsanwälte zum Verlauf der 184 Prozesstage. Auch Verteidigung und Nebenkläger*innen, Hinterbliebene und Pressevertreter*innen kommen zu Wort. Es entsteht ein genaues Puzzle aus Vorgängen, Aufnahmen, Sachverständigen-erläuterungen und Bewertungen prominenter Juristen, mit einer Fülle von Einordnungen. Gegenseitig erhellend montiert, hinterlassen sie den Eindruck, dass hier die Tatsachengrundlage entsteht, auf der nach Moral und Schuld gefragt werden kann. Dabei ist „Loveparade – Die Verhandlung“ spannend wie ein Verfahren, das sich den Modus der Empörung, der höchstens im Untersuchungsausschuss am richtigen Platz wäre, versagt.

Dominik Wessely, die Autorin Antje Boehmert, Knut Schmitz und Till Vielrose als Bildgestalter und Marcel Ozan Riedel als Editor hätten auch ganz anders vorgehen können. Sie hätten Fragen von Moral und Schuld in den Mittelpunkt stellen können. Sie hätten das Archivmaterial der „Loveparade“-Katastrophe zu einem Haudrauf-Stück über – vermeintliches – Justizversagen montieren können und damit auf große emotionale Resonanz setzen. Sie hätten ihre chronologisch geordnete Beobachtung des lang verzögerten Mammut-Prozesses durch die gleich gewichtete Begleitung der Nebenkläger direkt kontrastieren können. Sie hätten sich an die Fersen des ehemaligen Duisburger Oberbürgermeisters Sauerland und die des Veranstalters Schaller heften können, um auf billige Weise über das Verhältnis von Moral und Justiz zu reflektieren.

All das macht der Dokumentarfilm nicht. Er setzt stattdessen in beispielgebender Art auf die Haltung der Distinktion. Ein Prozess, so viel man sich von ihm versprechen mag, ist kein politischer Untersuchungsausschuss. Die Prozessordnung, über die wir hier enorm viel erfahren, funktioniert anders. Hier ist gerade in seiner nüchternen Zurückhaltung ein großer Film gelungen.

 
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