50. Grimme-Preis 2014

Restrisiko (BR)

PreisträgerInnen

Katrin Bühlig (Buch/Regie)

Dagmar Biller (Tangram Film: Produktion)

Produktion: Tangram International GmbH

Erstausstrahlung: Dienstag, 26.11.2013, 22.45 Uhr, BR

Sendelänge: 90 Min.

Inhalt

„Sie können einem Menschen nicht ansehen, ob er gefährlich ist.“ sagt Dr. Nahlah Saimeh. Sie ist die ärztliche Direktorin des LWL Zentrums für Forensische Psychiatrie in Lippstadt.

Katrin Bühlig und Dagmar Biller haben einen Film über Menschen gemacht, die im Maßregelvollzug leben. Kaum jemand weiß etwas über diese Häftlinge, die eigentlich Patienten sind. „Für die sind wir Monster“ beschreibt ein Insasse die Meinung derer, die außerhalb der Vollzugsmauern leben. Katrin Bühlig begleitet drei Männer durch ihren Alltag in der Forensischen Psychiatrie, die für viele ein „neues Zuhause“ geworden ist. Dr. Saimeh beschreibt die Psychiatrie als Teil eines „humanistisch angelegten Rechtssystems“ und somit als neuer Lebens-, Arbeits- und Freizeitraum für ihre Patienten. Im Maßregelvollzug für Sexualstraftäter leben Männer, die nicht vollzurechnungsfähig sind und schwere psychische Störungen haben. Katrin Bühlig fragt sie nach ihrer Kindheit, ihren Eltern und eigenen Missbrauchserfahrungen, aber auch nach ihrer Tat. Ein Insasse sagt: „Ich bin schuldig“, ein anderer antwortet: „Es ging um Sex und Macht und Zuwendung.“. Die Patienten kommen teils selbst aus zerrütteten Elternhäusern und sind im Heim oder bei Adoptiveltern aufgewachsen. Manche wurden selbst jahrelang missbraucht. In Lippstadt entwickeln sie erstmals Hobbys oder machen einen Schulabschluss. Manche entdecken durch Filme zum ersten Mal romantische Gefühle. Fast alle aber leben mit der Gewissheit, den Vollzug nicht mehr zu verlassen.

Stab

Produktion: Tangram International

Federführender Sender: BR

Buch/Regie: Katrin Bühlig

Kamera: Dietrich Mangold

Schnitt: Jürgen Winkelblech

Ton: Sebastian Wagner

Redaktion: Christel Hinrichsen

Jurybegründung

Warum Tierversuche? Nehmt Kinderschänder." So steht es auf dem Aufkleber an einem Mittelklassewagen vor dem Elektronikgeschäft in Marl. Unser Verhältnis zu Sexualstraftätern ist von Wut, Unverständnis und Unkenntnis geprägt.

Schmierige Blätter schreiben von Bestien, vom Bösen. Andere, wenige, betonen, dass die Täter einen fairen Prozess und eine menschenwürdige Bestrafung erhalten. Der Film "Restrisiko" von Katrin Bühlig nimmt sich die Täter vor. Und nur die. Kaum ein Wort zu Opfern. Sie durfte in der forensischen Psychiatrie in Eickelborn drehen. Es sind, das wird zu Anfang klargestellt, psychisch Kranke, die zu Straftätern wurden. Aber dieser Hinweis dient nicht als Entschuldigung. Er ordnet ein. Bühlig zeigt in einer konzentrierten, nie manipulierenden Bildsprache, wo und wie diese Menschen untergebracht sind, was sie denken, wie man versucht, sie zu verstehen und gegebenenfalls zu therapieren. Ein scheinbar fürsorglicher Ort, wo Männer, aufgeschwemmt von aggressionsdämpfenden Medikamenten, vor sich hin leben. Kein Kerker, keine Folter. Stattdessen: Befragungen, Töpferarbeiten und geselliges Grillen.

Ist es das, was wir, die Gesellschaft, erwartet? Genau hier liegt die große Kunst des Films: Nie lässt er den Schluss zu, dass man Verständnis für die Taten der Täter haben sollte, die Opfer vergessen könne. Es braucht nur wenig, und das Grauen steht sofort im Raum. Wenn einer der Täter langsam aufdreht, weil es im Gefängnisablauf nicht so läuft, wie er es will. Wenn einer, der einer Frau den Kehlkopf durchschnitt, nur lakonisch sagt: "Ich wollte, dass sie still ist." Das ist die Kunst. Bühlig filmt nicht nur ab. Sie lässt sich von der seltenen Gelegenheit, in einer Psychiatrie zu drehen, nicht korrumpieren, bleibt distanziert. Ihre Fragen, meist Hauptsätze, sind genau und kühl, wollen erfahren, nie werten.

Obwohl die schon lange einsitzenden Männer die Sprache der Therapie sprechen, können sie nicht verschleiern - ein Verdienst der Buchkomposition. Katrin Bühlig, wartet und bekommt, vielleicht intuitiv, den Moment, der so wichtig und alles erklärend ist, von den Protagonisten selbst erzählt. Sie hat dies aber sicher auch der mutigen Ärztlichen Leiterin Nahlah Saimeh zu verdanken, die mit wenigen nüchternen Worten die Patienten und ihre Taten einordnet. Die aber auch kritische Aussagen der Insassen zulässt. Mit ihr zusammen hat Bühlig es geschafft, den Zuschauern einen großartigen, wenn auch immer wieder verstörenden Einblick in eine für viele sicher zu recht verschlossene Welt zu geben. 

 
Zurück