45. Grimme-Preis 2009

Ihr könnt euch niemals sicher sein (ARD/WDR)

Adolf-Grimme-Preis an

Eva Zahn und Volker A. Zahn (Buch)

Nicole Weegmann (Regie)

Ludwig Trepte (Hauptdarstellung)

Produktion: Cologne Film

Stab

Produktion: Cologne Film, Micha Terjung;

Producerin: Iris Wolfinger

Buch: Eva Zahn und Volker A. Zahn

Regie: Nicole Weegmann

Kamera: Judith Kaufmann

Schnitt: Andrea Mertens

Musik: Steffen Irlinger

Darsteller: Ludwig Trepte, Jenny Schily, Jürgen Tonkel, Anna Maria Fuchs u.a.

Redaktion: Anke Krause

Erstausstrahlung: Mittwoch, 22.10.2008, 20.15 Uhr

Sendelänge: 90 Min.

Inhaltsangabe

Foto: WDR/Thomas Kost„Ich bin ein Nichts auf dem Weg ins Nirgendwo. Ich weiß, ich werde nirgends froh ...“, rappt Oliver. Der 17-jährige Schüler versteht die Welt nicht mehr. Weil er seine Gefühle und Gedanken in drastischen Hip-Hop-Texten ausdrückt, wird er in die Psychiatrie abgeschoben. Zuvor hatte er Streit wegen einer Klassenarbeit, in der er die innere Zerrissenheit Werthers nicht wunschgemäß interpretierte, sondern in Rap-Texten wiedergab. Konsequenz: Null Punkte! Als Oliver wütend das Klassenzimmer verlässt, verliert er einen Zettel – darauf ein weiterer Songtext, in dem er ankündigt, seine Deutschlehrerin zu töten. Nun baut sich vor ihm eine Mauer aus Verleumdungen, vermeintlicher politischer Korrektheit und Hilflosigkeit auf. Er, der sich mit seinen Texten nur ein Ventil für seinen Seelenzustand schafft, ist plötzlich ein potentieller Amokläufer, erfüllt er doch alle Klischees: er besitzt eine Waffe, Gewaltvideos und -spiele. Damit steht das Urteil über ihn fest. Sich wirklich mit ihm befassen, muss man dann ja nicht mehr ... Seine Lehrer lassen ihn fallen, seine Schwester wird von den Mitschülern terrorisiert, und der Vater seiner Freundin verbietet ihm jeden Kontakt. Die Eltern sind völlig überfordert, dabei wünscht er sich doch gerade von ihnen Rückhalt. Einen Freund findet er nur in dem Deutschrussen Micha. Aber auch Katja, die sich als seine Seelenverwandte sieht, hält zu ihm. Doch das labile Mädchen, das er in der Psychiatrie kennen gelernt hat, bringt die Situation zum Eskalieren.

Begründung der JuryFoto: WDR/Thomas Kost

Selbst Neuropathologen können niemandem in den Kopf schauen, obwohl sie Hirne in hauchdünne Scheiben zerlegen. Psychologen kommen auch nicht weiter. Warum wird der eine zum Amokläufer und der andere zum gefeierten Dichter der Unverstandenen? Zufall, Verdienst oder Ironie des Schicksals? Besonders an den Schulen scheint die Lage derer, die in Zukunft Staat machen sollen, prekär wie nie. Ob sie ihre Schüler vor allem als Restrisiko oder als Chance Mensch sehen, kommt ganz auf den Standpunkt an. Für Lehrer, Kollegien und Schulleitungen – so könnte man nach diversen Schulmassakern meinen – ist die Frage nach der Berechenbarkeit ihrer Schüler zur Überlebensfrage geworden, Risikoabschätzung zur Grundlage des Fachunterrichts.

Das Ich, ein letzthin Unverfügbares in jeglicher Hinsicht: Dies bewegt „Ihr könnt euch niemals sicher sein“ auf ebenso großartige wie großherzige Art und Weise. Der Film handelt von den Leiden des schwierigen Schülers Oliver. Neu am Gymnasium, drückt er seine Mordswut auf die verhasste Deutschlehrerin mit gereimten Hiphop-Versen aus. Möglicherweise ist Oliver brandgefährlich; möglicherweise ist er lediglich poetisch hochbegabt und leidet unter den altersüblichen Pubertätserscheinungen. Als er einen Zettel scheinbar eindeutigen Inhalts verliert, dreht seine Lehrerin durch. Nach einer Hausdurchsuchung wird Oliver in die Jugendpsychiatrie eingeliefert. Erlebte Willkür und eigene Ohnmacht scheinen ihn in die Rolle des Amokläufers geradezu unwiderstehlich zu drängen.

Das Buch von Eva Zahn und Volker A. Zahn unterläuft äußerst geschickt, konsequent und mit unverbrüchlicher Sympathie zu ihrer Hauptfigur die Erwartungen des Zuschauers, ohne das Thema Amok und seine Mechanismen zu verharmlosen. Doch nicht etwa der Schüler läuft hier Amok, sondern seine Umgebung, die ihn mit kopfloser Angst vorsorglich kriminalisiert. Einzig die Psychiaterin hält den Jugendlichen nicht für geisteskrank, sondern für ganz normal. Und Oliver erweist sich, wenn auch verzweifelt, als stabilster Charakter in einer Panikwelt.

Der Film nötigt zum genauen Hinsehen. Die Inszenierung von Nicole Weegmann wirbt um Verständnis, aber heischt nicht darum. Beeindruckend getragen durch seinen Hauptdarsteller Ludwig Trepte, vermittelt der Film Haltung, vermeidet aber Herablassung gegenüber denen, die sich um Haltung bemühen und dabei falsche Entscheidungen treffen. „Ihr könnt euch niemals sicher sein“ wagt einen heiklen Balanceakt bei einem schwierigen Thema – und gewinnt ihm souverän festen Boden unter den Füßen ab.

 
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