42. Grimme-Preis 2006

Polizeiruf 110: Der scharlachrote Engel (ARD/BR)

Adolf-Grimme-Preis mit Gold an

Günter Schütter (Buch)

Dominik Graf (Regie)

Michaela May (Darstellung)

Edgar Selge (Darstellung)

Nina Kunzendorf (Darstellung)

Stab

Redaktion: Cornelia Ackers

Buch: Günter Schütter (Preisträger)

Regie: Dominik Graf (Preisträger)

Kamera: Alexander Fischerkoesen

Schnitt: Ulla Möllinger

Darsteller: Michaela May,  Edgar Selge,  Nina Kunzendorf

Produktion:  BurkertBareissDevelopment GmbH

Producerin: Kerstin Schmidbauer

Sendelänge: 90 Min.

Erstausstrahlung: Sonntag, 20.2.2005, 20.15 h

Inhaltsangabe

Flo will nach einem Diskobesuch eine Rose vor ihrer Tür gefunden haben und später in ihrer Wohnung von einem Einbrecher vergewaltigt worden sein. Den Täter hat sie angeblich mit einem Schuss tödlich verletzt. Sie kennt auch den Namen des Mannes: Will Gérard. Ihr Notruf landet bei Kriminalhauptkommissar Jürgen Tauber, der wieder einmal eine seiner schlaflosen Nächte in seinem Büro verbringt. Doch als Tauber und 
seine Kollegin Jo Obermaier zum Tatort kommen, gibt es keine Leiche und eine Blutspur, die ins Nichts führt. Stattdessen stellt sich den Ermittlern die Frage, wer denn die schöne junge Frau wirklich ist, die Opfer eines Verbrechens geworden sein will.

Sie gibt vor, Studentin zu sein, die nebenbei als Fremdenführerin jobbt, lebt aber in einer für ihre Verhältnisse viel zu luxuriösen Wohnung. In ihrem Wohnzimmer ist außerdem eine Webcam installiert. Tauber und Obermaier finden heraus, dass Flo unter dem Namen Angel Sex per Internet anbietet - eine Faszination, der sich auch Kommissar Tauber nicht entziehen kann. Der angebliche Einbrecher Will Gérard ist einer von Flos Sex-Kunden gewesen und hat seit einem Jahr regelmäßig ihre Homepage besucht. Und: Der vermeintlich Tote taucht wieder auf. Es kommt zu einer Gerichtsverhandlung. Gérard gesteht den Einbruch, an den weiteren Aussagen der rätselhaften Flo bleiben jedoch Zweifel. Bis es zu einem erneuten Verbrechen kommt … 

Begründung der Jury

Eine Frau wird vergewaltigt. Eine Frau, die ihr Geld damit verdient, sich als Stripperin im Internet für zahlende Kunden auszuziehen. Ist so eine Frau also nicht selbst mit daran schuld, wenn einer ihrer Kunden durchdreht und sich mit Gewalt den direkten Sex erzwingt, zu dem sie die Männer aus der Anonymität des Internet heraus doch indirekt provoziert?

Selbstverständlich lautet die Antwort: nein. Aber dieser außerordentlich kühne "Polizeiruf" dringt tiefer und verstörender in das Thema Vergewaltigung ein, als es in Fernsehkrimis üblich ist. Dominik Graf und Günter Schütter schlagen mit radikaler Wucht ein großes Thema an: den Zustand des sozialen Klimas moralischer Verwahrlosung, Gefühlsverelendung, Entfremdung und Beziehungslosigkeit. Ein Zustand, in dem sich zwischen medialer Fiktion und Realität kaum noch unterscheiden lässt. Sie zeigen den asozialen Stumpfsinn, mit dem ein Triebtäter - und später das Gericht - sich anmaßt, Gewalttätigkeit in einen von der Frau gewollten und provozierten Sexualakt umzudeuten. Sie zeigen mit schockierender Brutalität und Deutlichkeit das Ungeheuerliche einer Vergewaltigung. Sie zeigen, wie die Gerichtsverhandlung für die Frau zu einer zweiten Vergewaltigung, diesmal auf der verbal-juristischen, moralisch vernichtenden Ebene wird.

Nina Kunzendorf spielt diese Rolle des "scharlachroten Engels" mit atemberaubend minimalistischer Präzision. Diese Figur ist kein Opfer mit mitleidheischend aufgerissenen Augen. Dies ist eine Frau, die ihre Selbstachtung schon vor der Vergewaltigung fast verloren hat, die zerbrechlich, wie auf Messers Schneide, durch die Verletzungen ihres Lebens balanciert, die ihre Sehnsucht nach Liebe und Berührung - und zugleich ihre tiefe Angst davor - hinter knappen, sarkastischen Bemerkungen verbirgt und unter Höchstanstrengung darum kämpft, ihre Würde und Selbstkontrolle zu bewahren. In diese brillante, verstörende Reflektion über Entfremdung und irregeleitete Gefühle sind auch die beiden Kommissare Edgar Selge und Michaela May mit einbezogen, zwei ungewöhnlich starke Gegenparts der Hauptfigur. Und in ihrer Verschiedenheit selten so glänzend ausformuliert wie hier: der emotional gestörte Ironiker, der sich zur emotional verstörten Internetstripperin hingezogen fühlt. Und die patente Bodenständige, die ihr Misstrauen gegen die Vergewaltigte nur langsam überwinden kann und erst im Schlussbild vom ganzen Ausmaß ihrer Erschütterung überwältigt wird. In der Summe und in allen Einzelheiten: ein herausragender "Polizeiruf".

 
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