60. Grimme-Preis 2024

Songs of Gastarbeiter – Liebe, D-Mark und Tod

(Film Five/filmfaust für WDR/rbb/ARTE)

 

Grimme-Preis an:

Cem Kaya (Buch/Regie)

 

Produktion: Florian Schewe, Stefan Kauertz, Claus Herzog-Reichel,
Mehmet Akif Büyükatalay

Erstausstrahlung: ARTE, Freitag, 27. Oktober 2023, 21.45 Uhr

Sendelänge: 90 Minuten

 

Inhalt:

Seit 60 Jahren leben türkische Migrant*innen in Deutschland. Genauso lange erfahren sie Ausgrenzung und Diskriminierung, und sehnen sich nach einer Heimat, in der sie sich – vor allem in zweiter und dritter Generation – nicht mehr heimisch fühlen. Unbemerkt von der größtenteils ignoranten deutschen Mehrheitsgesellschaft entstand so über die Jahrzehnte eine Musikkultur in Deutschland, in der die Traditionen türkischer Klänge und Lieder sich mit aktuellen Themen, mit Heimweh, Stigmatisierung und Benachteiligung mischen.

Der Regisseur und Autor Cem Kaya setzt den damals als „Gastarbeiter“ bezeichneten Migrant*innen und ihrer aus den Exilerfahrungen heraus entstandenen Kunst mit seinem Dokumentarfilm „Songs of Gastarbeiter – Liebe, D-Mark und Tod“ ein hochmusikalisches Denkmal. Untermalt von „Gurbeçi-Liedern“ (Lieder aus der Fremde) kommen Interpret*innen wie Yüksel Özkasap, die „Nachtigall von Köln“, der Liedermacher Metin Türköz oder der Rockmusiker Cem Karaca zu Wort, dessen 1984 erschienenes deutschsprachiges Album „Die Kanaken“ die Situation seiner Landsleute thematisierte.

Mithilfe von Interviews, Fernsehclips und Konzertmitschnitten macht Cem Kaya so einen Teil der deutsch-türkischen Vergangenheit sichtbar, der viel zu selten beachtet wurde.

 

Begründung der Jury:

Von jeher ist die Aufgabe der Kultur, Menschen zu vereinen, nicht zu spalten. Die große, bunte, bislang aber für eine große Öffentlichkeit erstaunlich unsichtbare Subkultur türkischer Einwander*innen in Deutschland angemessen darzustellen, das ist der Verdienst des Regisseurs und Autors Cem Kaya. In seinem so liebevollen wie energetischen Dokumentarfilm „Songs of Gastarbeiter – Liebe, D-Mark und Tod“ widmet er sich Musikrichtungen, in denen weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit fantastische Künstler*innen blühten und Erfolge feierten. Die Songs jener Musiker*innen handelten von Sehnsucht und Erinnerung, von Heimweh und Diskriminierungserfahrungen. Ihre Interpret*innen waren und sind Stars – und gehören zur deutschen Kultur. Doch diese ignorierte den Sound der Gastarbeiter*innen bislang fast komplett. Mit dem Aufkommen von einfach zu beschaffenden Speichermedien wie CDs oder Videocassetten konnten Teile dieses Sounds bewahrt werden – zumindest, wenn man – wie Cem Kaya – weiß, wo man diese Bild- und Tondokumente bekommt. Jüngere türkischstämmige Musiker*innen setzen die Kultur heute in moderneren Genres wie Hip-Hop und Rap fort und erzählen weiter von ihren Erfahrungen als Nachkommen der ungastlich behandelten „Gastarbeiter“ – auch und erst recht nach den nachhaltig verstörenden Beweisen von Rassismus, der sich unter anderem beim rassistisch motivierten Brandanschlag von Solingen manifestierte.

Cem Kaya zeigt in seinem beeindruckend recherchierten und enorm kurzweiligen Werk die gesamte Bandbreite dieses wichtigen Kulturbereichs. Dabei beweist er sowohl bei der Auswahl und Inszenierung der Gesprächspartner*innen als auch beim Collagieren von Original-Fernsehclips und Konzertausschnitten ein herausragendes Gefühl für Rhythmus und Dramaturgie.

Dass Kayas Film durch seine passenden Songausschnitte sowohl auf der musikalischen als auch durch die O-Töne auf der inhaltlichen und menschlichen Ebene auf höchstem Niveau überzeugt, ist der Kreativität und Emotionalität des Regisseurs zu verdanken. Die dargestellte Kultur ist keine Parallelgesellschaft, sondern ein Teil der deutschen Gesellschaft. Es ist nicht nur darum höchst peinlich, dass viele der von Cem Kaya vorgestellten Künstler*innen der breiten deutschen Öffentlichkeit kein Begriff waren, und zugleich höchste Zeit, das zu ändern. So ist „Songs of Gastarbeiter – Liebe, D-Mark und Tod“ gleichzeitig ein anrührendes Dokument des Erinnerns, aber auch ein wütender und notwendiger Appell, endlich über den Kartoffelsuppentellerrand hinauszuschauen. Die Jury ist einhellig begeistert und freut sich, „Songs of Gastarbeiter – Liebe, D-Mark und Tod“ mit einem Grimme-Preis auszuzeichnen.

 
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