60. Grimme-Preis 2024

Nichts, was uns passiert

(Gaumont für WDR)

 

Grimme-Preis an:

Julia C. Kaiser (Buch/Regie)

Emma Nova (Darstellung)

 

Produktion: Sabine de Mardt, Nina Sollich, Nele Willaert

Erstveröffentlichung: ARD Mediathek, Donnerstag, 23. Februar 2023

Sendelänge: 89 Minuten

 

Inhalt:

Wie eine leichte Sommergeschichte setzt „Nichts, was uns passiert“ ein: Anna, die gerade ihr Studium abschließt, lernt über einen gemeinsamen Freund den etwa gleichaltrigen Jonas kennen, der an seiner Promotion arbeitet. Gemeinsames Abhängen in der Uni-Clique, Bier trinken am Rhein, ein spielerisches Ringen um Überlegenheit in Gesprächen über Gender-Fragen, Kapitalismus oder Mansplaining. Beide mögen einander irgendwie und nach einem unaufgeregten One-Night-Stand scheint offen, ob sich eine lockere Affäre entwickeln könnte – bis eine Gartenparty mit reichlich Alkohol alles verändert: Jonas vergewaltigt die stark betrunkene Anna, die sich trotz einiger Gedächtnislücken deutlich an ihr „Nein“ erinnert, während Jonas von einvernehmlichem Geschlechtsverkehr spricht. Anna will sich nicht „zu so einem Me-Too-Opfer machen“, kämpft dennoch mit den seelischen Auswirkungen des traumatischen Erlebnisses und vertraut sich erst Wochen später ihrer Schwester Daria an. Als sie sich schließlich entscheidet, die Tat zur Anzeige zu bringen, gibt es keine Beweise. Schnell machen Gerüchte die Runde und das Umfeld muss sich positionieren: Gibt es die eine Wahrheit? Aussage steht gegen Aussage, doch Anna findet einen Weg, sich ihre Geschichte zurückzuholen.

 

Begründung der Jury:

Mit „Nichts, was uns passiert“ erzählt Julia C. Kaiser die Geschichte einer Vergewaltigung und stellt mit ihrem Film eine höchst komplexe Frage: Wie objektiv lässt sich sexualisierte Gewalt einordnen oder überhaupt erzählen? Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Bettina Wilpert beleuchtet Julia C. Kaiser gleich mehrere Themen und Perspektiven, die in dieser vielschichtigen Auseinandersetzung miteinander verflochten sind – und erzählt dabei sehr viel über den gesellschaftlichen Umgang mit sexualisierter Gewalt.

Als eine Art Ordnungselement fungiert in der filmischen Übersetzung des Stoffes die Figur der Podcasterin Kelly, die den Fall recherchiert und nicht nur Anna über das Erlebte berichten lässt, sondern auch Jonas und nahestehende Personen aus deren engerem Umfeld befragt. In Rückblenden werden die voneinander abweichenden Wahrnehmungen in einem pointierten Vor und Zurück aneinander montiert. In bemerkenswerter Leichtigkeit zeichnet Julia C. Kaiser fast nebenbei ein stimmiges Portrait des studentischen Milieus der Generation Z: Trittsicher und betont sprachsensibel bewegt sich das universitäre Umfeld von Anna und Jonas durch die gesellschafts- und sozialpolitischen Diskurse der Zeit, um dann letztlich doch überfordert zu sein, wenn sich weder das „gute Opfer“ noch der „böse Täter“ glasklar ausmachen lassen.

Während Jonas – Sohn aus einem gutbürgerlichen, feministischen Elternhaus und einen soliden moralischen Kompass vor sich hertragend – darauf schwört, keine Signale der Gegenwehr vernommen zu haben, und jede Verantwortung wegzudrücken versucht, will Anna in ihrer eigenwillig-trotzigen Außenwirkung die gängigen Opferklischees so gar nicht erfüllen. In überzeugend feinsinnigem Spiel entwickelt Emma Nova die Figur einer jungen Frau, die sich in eindrucksvoller Klarheit auf ihr Recht beruft, Schritt für Schritt und durch Höhen wie Tiefen ihren eigenen, selbstbestimmten Weg im Umgang mit dem Erlebten zu finden.

„Nichts, was uns passiert“ verzichtet darauf, die Vergewaltigung bildlich zu reproduzieren oder den traumatischen Schmerz voyeuristisch zu inszenieren. Der Fokus ist hier anders gelagert und bleibt nicht in den üblichen Narrativen stecken: Julia C. Kaiser gelingt es mit diesem vielstimmigen Film, in einer Geschichte über sexualisierte Gewalt unterschiedliche Perspektiven sowie Ambiguitäten herauszuarbeiten und in all ihrer Komplexität zusammenzuhalten, ohne dabei an irgendeiner Stelle zu relativieren. „Nichts, was uns passiert“ ist nicht nur ein preiswürdiger Film, sondern auch ein überaus wertvoller Beitrag zur Me-Too-Debatte.

 
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