59. Grimme-Preis 2023

Die Story im Ersten: Leben nach Butscha – Trauma und Hoffnung

(Wildfilms für WDR)

 

Grimme-Preis an:

Marcus Lenz (Buch/Regie)

Mila Teshaieva (Buch/Regie)

 

Produktion: Marcus Lenz

Erstausstrahlung: Das Erste, Montag, 11. Juli 2022, 22.50 Uhr

Sendelänge: 44 Minuten

 

Inhalt:

Butscha, Borodjanka, Irpin – drei Kiewer Vororte, die für eine breite Öffentlichkeit im April 2022 zum Sinnbild des Grauens des russischen Invasionskrieges werden. Nach 35 Tagen Besatzung und schweren Kämpfen ziehen sich die russischen Truppen zurück. Zwischen den Trümmern gesprengter Straßen, ausgebombter Wohnhäuser und verwüsteter Gärten werden auch noch Wochen später Leichen ukrainischer Zivilisten geborgen. Menschen aus den drei Kleinstädten erzählen von dem Moment, ab dem die Zeit stehen blieb – wie die dreizehnjährige Olenka es beschreibt –, und zeigen, wie es doch weitergeht, weitergehen muss. An runden Tischen sitzt Yuri, Leiter der Stadtwerke, er informiert über die aktuelle Lage und versucht händeringend Särge zu besorgen, damit die vielen Toten identifiziert und bestattet werden können. In einen weißen Schutzanzug gekleidet trägt Stadtrat Tahras Leichensäcke aus LKWs zur Obduktion. Im Innenhof kocht Olga auf offenem Feuer, ihre Wohnung ist komplett zerstört, in einem Restaurant hat sie 300 Menschen einen Schutzraum geboten. In der Stadtverwaltung wartet Liudmyla, die nach dem Körper ihres erschossenen Mannes sucht. Im Klassenraum der Schule Nr. 1 sitzt einsam die Schülerin Olenka, zwei Mitschüler wurden getötet, die anderen sind geflohen.

 

Begründung der Jury:

Olenka hockt vor dem Schreibtisch im bunt eingerichteten Kinderzimmer, ihre Freundin sitzt neben ihr auf dem Bett. Die beiden malen und singen. Plötzlich ein Knall, die Wände wackeln, die Mädchen zucken verschreckt zusammen, ihr Blick versteinert sich. Dann setzt Olenka den Pinsel wieder an. „Das ist beängstigend, aber das ist unsere neue Realität“, sagt sie und erklärt, wahrscheinlich handele es sich um Munition, die aus Panzern gefallen und nicht explodiert sei, die müsse nun gesprengt werden. Es sind Sequenzen wie diese in „Die Story im Ersten: Leben nach Butscha – Trauma und Hoffnung“, die einen immer wieder innehalten lassen. Mila Teshaieva und Marcus Lenz sind mit ihrer Kamera kurze Zeit nach dem Ende der russischen Besatzung vor Ort in Borodjanka, Butscha und Irpin. Direkt zu Beginn des Films stellen die Filmemacher:innen klar: Sie zeigen „das Leben danach“. Innerhalb von 44 Minuten geben sie einen hochaktuellen, konzentrierten, sensiblen wie vielschichtigen Einblick in die Region der Ukraine, die aufgrund grausamster Gewaltverbrechen zur weltweiten Schlagzeile wurde. Behutsam fangen sie ein, was es bedeutet, mutmaßliche Kriegsverbrechen verwalten zu müssen und inmitten der Zerstörung und des Leids Alltag zu leben. Dabei verstärken sie die Abgründe des Krieges filmisch nicht, sie treten als Filmteam nicht ins Bild und geben lediglich mit einem zurückhaltenden Kommentar kurze Einordnungen.

Besonders hoch anzurechnen ist Teshaieva und Lenz, mit welcher Ruhe und Klarheit sie Momente einfangen und für sich sprechen lassen. All das geschieht inmitten einer Situation, in der absolut unklar ist – auch für die Filmemacher:innen –, wie es weitergehen wird. Da ist die Szene auf dem Ortsplatz: Im Anschluss an die Rufe „Ukraine über alles!“, „Putin, du Pimmel“ und „Russisches Kriegsschiff – Verpiss dich“ findet bei der Rekrutierung neuer Soldaten eine Hochzeit statt. Während des Gesangs eines Liebesliedes liegt sich das Paar lange tanzend in den Armen, umgeben von einer Vielzahl uniformierter Personen. In einem anderen Moment wird gezeigt, wie Kinder aus Borodjanka evakuiert werden sollen, ein Kind wehrt sich einzusteigen, weint und schreit verzweifelt auf.

Teshaieva und Lenz gelingt eine Zustandsbeschreibung, die den Blick auf die Menschen vor Ort richtet. Sie zeigen Massengräber, Trauma und Schmerz, ohne ausstellend zu werden und die Not und Überforderung der Verwaltung, für Aufklärung, Dokumentation und Struktur zu sorgen, ohne engagierte Ortskräfte aus dem Blick zu verlieren. So veröffentlichten sie bereits Anfang Juli 2022 ein wichtiges Zeitdokument, das von der Stärke der Bilder und Protagonist:innen getragen wird.

 
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