59. Grimme-Preis 2023

Atomkraft Forever

(PIER 53 Filmproduktion für SWR/NDR)

 

Grimme-Preis an:

Carsten Rau (Buch/Regie)

Andrzej Król (Bildgestaltung)

 

Produktion: Carsten Rau, Hauke Wendler

Erstveröffentlichung: ARD Mediathek, Montag, 11. Juli 2022

Sendelänge: 88 Minuten

 

Inhalt:

Kernspaltung, Erkundungsbergwerk, Endlager, Netzstärke, Stromlast, Zwischenlager, Castorbehälter, Atomkraftgegner: Das sind Begriffe, die die Nachrichten zur Atomenergie seit den 1970er Jahren prägen. Carsten Rau (Buch und Regie) hat mit „Atomkraft Forever“ die Versatzstücke aufgenommen und einen hochaktuellen, klugen Film vorgelegt, der die Räume hinter den politischen Debatten ausleuchtet. Von der Demontage des Kernkraftwerkes Greifswald, über die Abschaltung von zwei Blöcken des AKW in Gundremmingen und den damit verspürten Verlust eines Stückes Heimat bei den Bewohner:innen der bayrischen Gemeinde, bis zur Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), dem Kernforschungsinstitut Caradache und einer Konferenz junger Nuklearwissenschaftler:innen in Frankreich spannt sich der erzählerische Bogen. Der Film dokumentiert an verschiedenen Aspekten und Orten, wie die Abhängigkeit vom und der gestiegene Bedarf an Atomstrom einen Atomausstieg erschweren und gleichzeitig alternativlos erscheinen lassen. Vor allem aber führt der Film überaus unaufgeregt vor, dass mit der Abschaltung der Reaktoren und Kraftwerke der Gegenstand selbst nicht einfach verschwindet. 

 

Begründung der Jury:

Das KKW Greifswald ist eines von 17 Atomkraftwerken in Deutschland. 1990 abgeschaltet, wird es seit 1995 demontiert. 5,6 Milliarden Euro kostet dieser kleine Teil Atomausstieg und wird mindestens 80 Jahre dauern. Die Interviewpartner:innen – durch ihre Profession und den alltäglichen Umgang mit dem Thema Experten pro toto – erleben wir an den sehr gut ausgewählten Orten der Erkundigung bei ihrer Arbeit. So können wir ihren interessanten, allgemeinverständlichen Erklärungen, Argumenten und Beispielen folgen. Daraus und aus den aussagekräftigen Zahlen zum Atomausstieg und der weltweiten Stromproduktion in Kernkraftwerken resultiert wohltuende Sachlichkeit. „Atomkraft Forever“ reicht über die aktuelle Debatte weit hinaus, nimmt sie aber gleichzeitig in einer bisher so nicht betrachteten Vielfalt auf. Damit stellt sich der Film im Fernsehjahr 2022 in hervorragender Qualität zu einem der zahlreichen Diskussionsfelder, die unsere Gesellschaft umtreiben und spalten.

Die Jury lobt insbesondere die herausragende Bildgestaltung von Andrzej Król. Die Kamera geht an die Orte, die sonst verschlossen bleiben, bedrückend fängt sie die spürbare Anspannung im Zwischenlager für Atommüll ein. Die Bildebene erweitert das filmische Anliegen. Dass Atomstrom auch wirtschaftlichen Aufschwung, Geld in den Gemeindekassen und Wohlstand in ganzen Regionen bedeutet, Wettbewerbsfähigkeit, Energiemix, Energiesicherheit zur Debatte stehen, zeigen die Bilder ebenso wie die ungelösten Probleme der Aufbewahrung von radioaktivem Material und spiegeln die Vielfalt der Themen. Auf einem riesigen Monitor schauen wir auf das Stromnetz in Zentraleuropa, sind bei einer Diskussion mitten im kritischen Publikum. Ein altes Kofferradio im vorhanglosen Bürofenster konterkariert die omnipräsenten Computerausstattungen. Auf den Fluren der BGE schiebt eine junge Frau einen Aktenwagen und teilt per Hand Post und Dokumente aus, während Geolog:innen dort die nächsten zehn Eiszeiten in einer Million Jahre für die Suche nach einem geeigneten Endlager simulieren. Überzeugend ist das Archivmaterial zur Kernkraft in Ost und West sowie zur Protestbewegung einmontiert.

Die besondere Kraft des Films liegt in seiner Dramaturgie. Lange glaubt man, da sprechen nur Atomkraftbefürworter:innen. „Atomkraft Forever“ ist allerdings kein Plädoyer für die unendliche Erzeugung von Energie mittels Kernspaltung, sondern die nüchterne Feststellung, dass wir auf unbestimmte Zeit den Preis zahlen, den der Bau und Abbau der Atomkraftwerke auf vielen Ebenen kosten wird. Der Film weiß genau, was er will, und erzählt konsequent beobachtend. Mit dem Abschalten der Anlagen sind wir die Fragen, Probleme und Aufgaben rund um die Atomkraft für Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte, nicht los. Das Nachdenken über den Traum vom sauberen Atomstrom überlässt der Film mit einer klaren Haltung dennoch seinem Publikum.

 
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