57. Grimme-Preis 2021

Vernichtet – Eine Familiengeschichte aus dem Holocaust

(Schmidt & Paetzel Fernsehfilme für rbb/HR/NDR)

 

Grimme-Preis an

 

Andreas Christoph Schmidt (Buch/Regie/Schnitt)

 

Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
Das Erste, Montag, 27.01.2020, 23.00 Uhr

Lauflänge: 60 Min.

 

Inhalt

Am 9. November 1938 brannten in Glambeck im Löwenberger Land nördlich von Berlin die Habseligkeiten der Familie Labe. Dorfbewohner hatten die alleinerziehende Mutter Rosa, Inhaberin des örtlichen Kolonialwarenladens, mit ihren drei Kindern Paul, 16 Jahre alt, Dora, 15, und Theo, 13, aus dem Haus getrieben und Hausrat und persönliche Dinge angezündet. Auch wenn die Entrechtung und Vertreibung der Jüdinnen und Juden in Deutschland schon Jahre zuvor begonnen hatte, setzt Andreas Christoph Schmidt mit seiner Suche nach Spuren der Familie Labe an genau diesem Punkt an. Der Punkt, an dem Verbrechen konkret, vor aller Augen, unter zahlreichen Stimmen und mit der tätigen Hilfe vieler, die einmal Nachbarn und Bekannte waren, verübt wurden.

Familie Labe wurde aus Glambeck vertrieben und versprengt. Schmidt zeichnet ihren Weg in die Vernichtung, von denen mancher nur ein möglicher sein mag, nach, geht an die Orte, an denen Rosa, Paul, Dora und Theo waren oder gewesen sein könnten, folgt Spuren, Hinweisen und auch manchen Mutmaßungen, interpretiert Quellen. Er befragt in der Sache Kundige, vergleicht Schicksale und zieht Schlüsse, bis er schließlich nicht mehr weiterkommt, bis die Enden der Lebenswege erreicht sind, die natürlich bittere und furchtbare waren.

Rosa wird von Berlin aus nach Kovno deportiert und dort 1943 ermordet. Doras Weg führt über einen Hachschara-Kurs in Schniebinchen nach Berlin und Bielefeld, von wo aus sie nach Auschwitz-Birkenau deportiert wird, um in den Gaskammern ermordet zu werden. Paul kommt über Warschau nach Treblinka und wird hier getötet. Theo, der Jüngste, stirbt vermutlich wie die Mutter in Kovno, ungewiss bleibt auch, ob er den Weg mit ihr gemeinsam gegangen ist oder allein.

 

Begründung der Jury

Es ist eine schlimme Geschichte, die Andreas Christoph Schmidt uns da erzählt, vier fragmentarische Leidenswege, singulär und doch beispielhaft. Vier Leben und vier Tode von sechs Millionen. Und mehr als einmal scheint es einen im Verlauf des Films zu zerreißen, will man kapitulieren, sich entziehen.

Diese Form der Spurensuche, die Schmidt sich und uns bei der Rekonstruktion des Wegs der Familie Labe in die Vernichtung und Ermordung zumutet, erweist sich als ungewöhnlich instruktiv und eindringlich. Denn die Lakonie und Präzision, deren er sich dabei bedient, trifft die Zuschauer*innen mit einer ungeheuren Wucht, die dem furchtbaren Geschehen Rechnung zu tragen angemessen zu sein scheint, ohne dies zu können. Kein Zuviel verstellt den Blick. Kein Bild, kein Ton, keine Note, kein Satz. Die kurzen und präzisen Formen und ihre Verschränkungen führen dabei jedoch nicht zu einer Verkürzung, erreichen vielmehr auf eine ihnen inhärente Weise eine Verdichtung, die einer rationalen Form von Überwältigung gleichkommt.

Alles wirkt konzentriert und fokussiert. Die Texte – Kommentare, Erinnerungen, Zeitzeugen-berichte – sind geprägt von einer durchdringenden und mitunter analytischen Klarheit, werden gesprochen mit zurückhaltender Eindringlichkeit (Hauptsprecher Ulrich Matthes). Mit fragendem Gestus konstatiert der Film da, wo das Faktische offenkundig ist, und unternimmt begründete Spekulationen, wo es möglich scheint. Schmidts Methodik ist dabei immer transparent. Die Grenzen seines Erzählens, seines Materials werden aufgezeigt, Leerstellen bleiben als Leerstellen erkennbar und das Ausschnitthafte auch. Klug auch der Einsatz von Bild (Lutz Reimann) und Musik (Andre Pawelski).

Neben der lebensgeschichtlichen und zeithistorischen Dimension seiner Erzählung in Verbindung mit der Art ihrer Umsetzung erweist sich der Film auch in anderer Hinsicht von Relevanz, zeigt er doch eine vielschichtige Möglichkeit, wie nach dem Versterben der Zeitzeugen auch weiterhin Zeugnis abgelegt werden und erinnert werden kann, wie auch weiterhin Geschichte und Geschichten erzählt werden können, die erzählt werden müssen.

Denn auch das macht der Film deutlich. Einen wesentlichen Anteil am Schicksal der Familie Labe hatten Dorfbewohner von Glambeck und ihre persönliche Entscheidung, am 9. November 1938 mitzumachen. Schuld ist immer auch individuell. Und die damit verbundene Frage nach der eigenen Verantwortlichkeit universell.

 
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