57. Grimme-Preis 2021

Der Ast, auf dem ich sitze

(Bildersturm Filmproduktion für ZDF/3sat)

 

Grimme-Preis an

 

Luzia Schmid (Buch/Regie)

 

Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
3sat, Montag, 14.12.2020, 22.25 Uhr

Lauflänge: 103 Min.

 

Inhalt

Mit konsequenten Steuersenkungen haben es die Bürger*innen des Städtchens Zug in der Schweiz geschafft, extrem reich zu werden. An jedem Briefkasten des malerischen Orts kleben mannigfach Firmennamen, Wirtschaftsanwält*innen und Rohstoffhändler*innen führen Büros in der Stadt. Die Bewohner*innen profitieren – und schieben kritische Gedanken weit von sich.

Die aus Zug stammende Filmemacherin Luzia Schmid sucht in ihrem Film nach Antworten zu Fragen über Moral und Gerechtigkeit – und muss dabei nicht weit gehen: Ihre eigene Familie steckt mitten im luxuriösen Ausleben und Auslegen eines Wirtschaftssystems, das auf Ausbeutung in ärmeren Ländern beruht. Schmid befragt nicht nur die engsten Angehörigen, alte Freund*innen und Politiker*innen, sondern erforscht die Konsequenzen, die das Verhalten in Staaten wie Sambia hat, wo die direkten Folgen der Steuersünden deutlich werden. Die komplexen Verbindungen zwischen Reichtum, Armut, politischen Systemen und eigenem Handeln dröselt Schmid dabei mit leichter Hand auf und portraitiert in ihrem so privaten wie politischen Dokumentarfilm nicht nur eine Gemeinde, sondern eine ganze Gesellschaft.

 

Begründung der Jury

Einen Film über Wirtschaftssysteme zu machen, birgt große Herausforderungen: Das Thema ist komplex, der Kern – der Geldfluss – ästhetisch wenig anschaulich, normalerweise äußern sich die Beteiligten ungern. Denn über Geld spricht man nicht.

Die Filmemacherin Luzia Schmid baut in ihrer Geschichte von Anfang an auf einen persönlichen Zugang. Wir lernen ihre herzliche Schwester und ihren sympathischen Vater kennen, Schmid spricht mit Zeitzeugen, Politiker*innen und Freund*innen, die bereitwillig erzählen, was im Laufe des Films immer deutlicher wird: Eine ganze Stadt scheint sich kollektiv und sukzessiv von der moralischen Frage entfernt zu haben, was es für andere Gemeinden, Staaten, Gesellschaften bedeutet, wenn man Geschäftspartner*innen günstige Steuerbedingungen anbietet und deren Heimat damit um die dort nötigen Steuereinnahmen bringt.

Und es reicht Schmid nicht, die Auswirkungen des Verhaltens ihrer Gemeinschaft nur abstrakt zu analysieren – mit Besuchen in Sambia und in Gesprächen mit dort lebenden Expert*innen kann Schmid zudem ihre Vorwürfe und die schreiende wirtschaftliche und moralische Ungerechtigkeit konkretisieren, ohne dabei laut zu werden. Sie legt die Verbindung zwischen der Schweizer Hochfinanz und der Ausbeutung von Rohstoffen wie Kupfer in fremden Ländern dar, und kann beweisen, wie ein Arbeitgeber in Sambia sich genauso in alle gesellschaftlichen Strukturen drängt wie eine Briefkastenfirma in Zug.

Ungewöhnlich offene Bekenntnisse rahmen Schmids Darlegung – die Aussage, dass die „soziale unternehmerische Verantwortung nur für die Angestellten gilt“, fällt vor der Kamera genauso wie die, dass „Politiker ihre eigenen Moralvorstellungen nicht Gesetz werden lassen dürfen“.

Das Erstaunliche an Schmids haltungsstarkem Werk ist die Leichtigkeit, mit der sie die Zuger Steuersünder*innen dazu bringt, ihr Verhalten selbst zu offenbaren. Die Beteiligten werden dabei weder zu unsympathischen oder skrupellosen Monstern, noch wirken sie wie gierige Kapitalist*innen. Stattdessen lässt die Regisseurin die Konsequenzen aus dem Gesagten und Gezeigten im Kopf der Zuschauer*innen wirken. Und stellt dazu ganz nebenbei endlich einmal all die Fragen, die man schwerreichen Menschen immer schon mal stellen wollte.

 
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