54. Grimme-Preis 2018

Eier aus Stahl - Max Giesinger und die deutsche Industriemusik aus dem Neo Magazin Royale (ZDF/ZDFneo)

Grimme-Preis Spezial an

 

Jan Böhmermann, Matthias Murmann und Philipp Käßbohrer für Eier aus Stahl - Max Giesinger und die deutsche Industriemusik aus dem Neo Magazin Royale (ZDF/ZDFneo)

 

Produktion: Bildundtonfabrik

Erstausstrahlung: ZDFneo, Donnerstag, 06.04.2017, 22.15 Uhr

Sendelänge: ca 22 Minuten

 

Inhalt

Wie funktioniert eigentlich der neue deutsche Wohlfühl-Pop? Ist er wirklich so authentisch und tiefempfunden, wie er von sich behauptet? Dieses Thema ist Jan Böhmermann wichtig, denn er widmet ihm über 20 Minuten in einem Beitrag des „Neo Magazin Royale“. Abgesehen von Videoeinspielungen, die den ganzen Bildschirm einnehmen, werden die Ergebnisse aufwändiger Recherche per Split Screen präsentiert: In der linken Bildhälfte sieht man Böhmermann am Schreibtisch, in der rechten Hälfte gibt es Standbilder und Textinserts, die das Gesagte illustrieren, dementieren oder kommentieren. Songinhalte, Autorenschaft, Ikonografie und weitere Themen werden ironisch durchdekliniert, und dabei wird ersichtlich: Es geht um ein durchkalkuliertes Industrieprodukt. Mit diesem Wissen fällt der Schritt zur Praxis leicht – mit Hilfe von Schimpansen aus dem Gelsenkirchener Zoo entsteht ein nach den gleichen Regeln gebauter Popsong, zu dem es als Krönung noch ein Video gibt, das natürlich ebenfalls den Genreregeln folgt.

 

Stab

Moderation: Jan Böhmermann 

Buch: Linus Volkmann, Philipp Käßbohrer, Jan Böhmermann,

Creative Producer: Philipp Käßbohrer

Produzent: Matthias Murmann

Produktionsleitung: Yannick Moll, Martin Borchers 

Redaktion btf: Julia Thiel, Gilda Sahebi, Teresa Messerschmidt, Johannes Oberkrome

Regie Show: J. Patrick Arbeiter

Leitung Postproduktion: Julian Schleef

Gestaltung Grafik: Anne Pothenick, Birte Buß, Laura Schraufstetter, Jo Müller, Florian Köhne, Matthias Gerding, Florian Böttger, Julian Jakelski, Michael König

Musik: Alexander Werth, Niko Faust

Ton: Kai Holzkämper, Tom Vermaaten

Regie Video: Nicolas Berse 

Kamera: Driss Azhari (Video), Julia Hüttner (Show)

Schnitt: David Wieching, Rafael Maier

Produktion: btf GmbH 

Redaktion ZDF: Nicole Sprenger, Livia Reidt, Tim Engelmann

Koordination ZDFneo: Sebastian Flohr

Produktion ZDFneo: Katrin Lachmann

 

Jurybegründung

Wie funktioniert eigentlich gute Unterhaltung? Einmal mehr beweist Jan Böhmermann hier, dass sich gute Unterhaltung mit ihrem Publikum verbündet, es zu einem intelligenten Spiel einlädt und mit Überraschung belohnt. Gute Unterhaltung entsteht, wenn jemand für etwas brennt. Die Rubrik „Eier aus Stahl“ steht beim „Neo Magazin Royale“ genau dafür, und das Intro lässt keinen Zweifel: „Wir müssen reden, über den Echo, die deutsche Musikindustrie und die deutsche Popmusik.“ Mit formal bescheidenen Mitteln wird in den folgenden 20 Minuten ein Ideenfeuerwerk gezündet, das nicht nur überzeugend argumentiert, sondern auch zu den raren Unterhaltungshöhepunkten des Jahres 2017 zählt.

Mit leichter Hand zeigt Böhmermann, dass der neue deutsche Pop von Giesinger und Co. genaugenommen Etikettenschwindel ist: Er tut so, als stamme er von einer neuen Generation von Songwritern, die ehrlich von ihren ureigensten Gefühlen singen, dabei handelt es sich bloß um ein „Schlagerrevival unter falscher Flagge“, um „Bio-Musik aus industrieller Käfighaltung“. Der Nachweis wird material- und facettenreich geführt: Die Themen sind immer allgemein, damit sich Tiefe vorgaukeln lässt („Menschen“, „Leben“, „Tanzen“, „Welt“); die neuen Poeten schreiben keineswegs ihre Songs allein; die Musikvideos dazu enthalten neben austauschbarem Bildmaterial auch knallhartes Product Placement, das so gar nicht zur angeblichen „Realness“ der KünstlerInnen passt. Das klingt erst einmal wie die Beschreibung eines pädagogisch ambitionierten „Aspekte“-Beitrags aus früheren Zeiten, aber die Liebe zum (komischen) Detail macht daraus ein einzigartiges Stück Fernsehen.

Das Publikum muss dabei eigenes Wissen einbringen, sonst funktioniert das Spiel nicht: Wenn bei einer Fotocollage unlängst verstorbener Popstars zum Stichwort „Prince“ etwa ein Bild von Sebastian Krumbiegel, Sänger bei den Prinzen, eingeblendet wird. Oder bei der Erwähnung der Lochis ein Foto der Amigos gezeigt wird, was als Pointe nur dann richtig funktioniert, wenn man ahnt, dass beide vielleicht mehr mit einander zu tun haben könnten, als ihnen selbst bewusst ist. In anderen Fällen müssen lediglich Bildähnlichkeiten erkannt und interpretiert werden (sehen die CEOs der größten deutschen Musikunternehmen bloß zufällig aus wie Testimonials aus der Bierwerbung?). Besondere Absurditäten werden gleich auf dem Silbertablett präsentiert – wie bescheuert ist Product Placement, wenn in einem Video zu einem vermeintlich tiefsinnigen Song ein Küchengerät und ein Staubsauger eine tragende Rolle spielen? Wortspiele gibt es natürlich auch, so bekommt der Begriff „Pick-Up Artist“ durch Product Placement eine völlig neue Bedeutung.

Das Ideenfeuerwerk geht bei der Umsetzung der Befunde in die Praxis weiter: Der als Experiment gebastelte neue Song, dessen Text von Schimpansen (bei der GEMA als Textdichter gemeldet) aus Tweets bekannter Youtuber, Werbeslogans, Kalendersprüchen und Songzeilen aktueller Popsongs gezogen wurde, heißt natürlich „Menschen Leben Tanzen Welt“. Unterhaltung auf diesem Niveau schaffen in Deutschland derzeit nur wenige – und deshalb war die Jury der Meinung: Ja, Jan Böhmermann hat schon wieder einen Grimme-Preis verdient.

 
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