59. Grimme-Preis 2023

STRG_F bei den Taliban: Warum finden Menschen sie gut?

(NDR/funk)

 

Grimme-Preis Spezial an:

Armin Ghassim

Mariam Noori

Zita Zengerling

für die sehr differenzierte Auseinandersetzung mit Afghanistan.

 

Erstveröffentlichung: funk, Dienstag, 19. Juni 2022, 18.00 Uhr

Sendelänge: 82 Minuten

 

Inhalt:

Sein Leben lang war Noor Mohamad Schams ein erklärter Gegner der Taliban, aber nach dem Regierungswechsel im Sommer 2021 hat sich der alte Herr mit den neuen Machthabern arrangiert. „Ich finde die Taliban gut”, sagt er seiner Enkelin, der STRG_F-Reporterin Mariam Noori, am Telefon: Sie hätten die Korruption beendet und Sicherheit gebracht. Noori, die als kleines Kind vor dreißig Jahren mit ihren Eltern aus Afghanistan geflohen ist, will verstehen, warum so viele ihrer früheren Landsleute heute der gleichen Meinung sind wie ihr Großvater, obwohl in dem „Islamischen Emirat“ das Scharia-Recht gilt und Frauenrechte massiv eingeschränkt worden sind: Nach vierzig Jahren Krieg sehnen sie sich nach Ruhe und Frieden; auch um den Preis von Demokratie und Menschenrechten. Gemeinsam mit Armin Ghassim und Zita Zengerling ist Noori in ihr einstiges Heimatland gereist und hat dort sehr persönliche Eindrücke gesammelt, neben ihrem Opa kommen auch weitere Familienmitglieder zu Wort. Entstanden ist ein gut 80 Minuten langes Porträt eines zerrissenen Landes, dessen Gegenwart nur zu verstehen ist, wenn man die Vergangenheit kennt. Der Film erzählt daher auch die afghanische Geschichte des letzten Jahrhunderts, aber einfache Wahrheiten hat er nicht zu bieten.

 

Begründung der Jury:

Im Sommer 2021 öffneten die Taliban Afghanistan für journalistische Gäste aus dem Ausland – eine reine Imagekampagne, wie sich bald darauf zeigte. Der Film ist ein Blick durch ein Zeitfenster, das schon lange wieder geschlossen ist: Plötzlich hatten die Menschen berechtigte Hoffnungen, die allerdings nicht lange währten. Zu einer außergewöhnlichen Produktion wird die mit gut 80 Minuten im Rahmen des Jugendangebots funk ungewöhnlich ausführliche Reisereportage wegen des konsequent persönlichen Ansatzes. „Warum finden die Menschen in Afghanistan die Taliban plötzlich gut?", lautet sinngemäß die Titelfrage, aber korrekt müsste sie lauten: „Warum findet mein Opa sie gut?“ Denn darum geht es: Welcher Sinneswandel hat in Mariam Nooris Großvater, einst ein erbitterter Gegner der Taliban, stattgefunden? Wie konnte es geschehen, dass er heute so große Hoffnungen in die neuen Machthaber setzt? „Heute“ ist in diesem Zusammenhang natürlich ein sehr flüchtiger Begriff. „Heute“ ist im dokumentarischen Fernsehen in der Regel nicht nur gestern, sondern meist sogar vorgestern, weshalb Nooris Film eine reine Momentaufnahme ist.

Als besonders beeindruckend empfand die Jury die gelungene Verschränkung der privaten mit der gesellschaftlichen Dimension, zumal die Verknüpfung der familiären Ebene mit den politischen Rahmenbedingungen überaus fesselnd ist: Nur so sind die speziellen Einblicke überhaupt erst möglich geworden. Hervorzuheben ist nicht zuletzt der Mut Mariam Nooris, sich persönlich derart zu exponieren. Dass man die Taliban auch gut finden kann, provoziert geradezu Widerspruch, erst recht hierzulande, wo die Terrorgruppe aus gutem Grund stets als Bilderstürmer, Kulturfeinde und Unterdrücker jeder Weiblichkeit angeprangert worden ist. Dass der Film auch über Aspekte berichtet, die in Deutschland so gut wie keinen Raum erhalten, ist ebenso respektabel wie die Zulassung der daraus unvermeidlich resultierenden Dissonanzen. Diesen Diskurs wiederum setzen Mariam Noori, Armin Ghassim und Zita Zengerling mit Hilfe von dramaturgisch schlüssig platziertem Archivmaterial gekonnt in einen historischen Kontext, dessen Ambivalenz ebenfalls nicht verschwiegen wird. Von der persönlichen Ebene abgesehen hat der Film daher seine stärksten Momente, wenn er sich mit der komplexen Situation im Land befasst. Die Jury möchte die Auszeichnung nicht zuletzt als Signal an ARD und ZDF verstanden wissen, für herausragende funk-Beiträge dieser Art auch im linearen Fernsehen einen Platz zu finden, um auf diese Weise zumindest theoretisch all jene zu erreichen, die ihren Bewegtbildbedarf nicht über die Mediatheken decken oder der Meinung sind, funk sei nur was für junge Leute. 

 
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