41. Grimme-Preis 2005

Tatort: Herzversagen (ARD / HR)

Adolf-Grimme-Preis an

Andrea Sawatzki (Darstellung)

Jörg Schüttauf (Darstellung)

Stephan Falk (Buch)

Thomas Freundner (Buch/Regie)

Stab

Redaktion: Jörg Himstedt (HR)

Produktion: HR, Liane Jessen

Buch / Regie: Thomas Freundner (Preisträger)

Buch: Stephan Falk (Preisträger)

Kamera: Armin Alker

Schnitt: Stefan Blau

Darsteller: Andrea Sawatzki (Preisträgerin), Jörg Schüttauf (Preisträger) u.a.

Sendelänge: 90 Min.

Erstausstrahlung: Sonntag, 17.10.2004, 20.15 h

Inhaltsangabe

Herzversagen - so lautet die vielleicht häufig zu voreilige Diagnose, wenn alte Menschen tot in ihren Wohnungen aufgefunden werden. Möglicherweise wäre es auch bei Frau Anuschek so gewesen, wenn nicht eine junge Kriminalassistentin aus Unsicherheit weitere Untersuchungen eingeleitet hätte.
Nun haben die Frankfurter "Tatort"-Kommissare Charlotte Sänger und Fritz Dellwo es nicht mit schlichtem Herzversagen zu tun, sondern mit Mord. Bald stellt sich heraus, dass noch weitere alte Frauen im Frankfurter Bahnhofsviertel offenbar demselben Mörder zum Opfer fielen. Sie alle lebten alleine und hatten kurz vor ihrem Tod ihre Ersparnisse von der Bank geholt.

Sänger und Dellwo werden bei ihren Ermittlungen mit der sozialen Not der alten Menschen, deren Altwerden und deren Einsamkeit in der Großstadt konfrontiert - ein Fall, der vor allem Charlotte Sänger schwer zu schaffen macht, denn ihre pflegebedürftige Mutter wurde in einem früheren "Tatort" Opfer eines Gewaltverbrechens.

Fritz Dellwo packt unterdessen die Wut über die Gleichgültigkeit der Mitmenschen. Als er die letzten Lebenstage der alten Damen recherchiert, muss er immer wieder feststellen, dass sich offenbar niemand für sie interessiert hat. "Wir sind die Armee der Unsichtbaren", sagt eine alte Frau, die er in einem Supermarkt trifft.

Am Ende finden Dellwo und Sänger den Mörder der alten Damen. Der hofft sogar auf mildernde Umstände, die Frauen seien ja sowieso schon alt gewesen, er habe ja keine Kinder umgebracht.

Begründung der Jury

An Herzversagen sind, dem Anschein und dem Totenschein zum Trotz, nicht die alten Damen gestorben. Sondern die Gesellschaft. Aber hat sie denn je gelebt? Sie hat doch keinen Körper und also auch keine Seele. Und keine Postanschrift. Bei ihr kann man nicht klingeln wie bei den alten Damen, die aus Angst vor Fremden die Kette vorlegen, aber den jungen Mann vom Lesezirkel einlassen, ihren Mörder. Man kann an die Gesellschaft keine guten Wünsche adressieren und keine Vorwürfe. Wenn man sie ins Bild setzen will, muss man einen Ausschnitt zeigen.

Zum Beispiel Frankfurt. Die Weltstadt ohne Herz. Wer hierher zieht, will wieder fort. Und möchte mit seinesgleichen nichts zu tun haben. Ganz Frankfurt ist wie der Hauptbahnhof. Eine Durchgangsstation. Man passiert sie, auch wenn man hier arbeitet. Man lässt sie passieren. Man lässt alles passieren.
Der Tatort Frankfurt, an dem Charlotte Sänger und Fritz Dellwo ermitteln, wurde in den ersten, von Niki Stein gestalteten Episoden als Knotenpunkt von Zufahrtsstraßen und Fluchtwegen in den Blick genommen.
Die ausgezeichnete Folge "Herzversagen" von Regisseur Thomas Freundner, der gemeinsam mit Autor Stephan Falk auch das Buch mitverantwortet, unterscheidet sich deutlich von den Vorläufern. Erzählt wird ein Märchen vom lautlosen Horror vertrauter Verhältnisse, das unter den Wanderanekdoten stehen könnte, die Ethnologen über unseren unheimlichen Alltag sammeln. Wenn man zu Fuß geht, merkt man, dass Frankfurt eine kleine Stadt ist. Für einen Spaziergang vom Mainufer zur Innenstadtgrenze braucht man, wie der Schriftsteller Martin Mosebach bemerkt hat, nur eine halbe Stunde. Diese kurzen Wege, die niemand nimmt, macht sich der Mörder zunutze. Es könnte die gute Nachbarschaftshilfe noch geben. Denn es könnte jeder noch jeden kennen.

Ein Kriminalfilm, dem das Unwahrscheinliche gelingt: Er erfüllt das Gesetz des Genres und genügt dadurch dem zeitkritischen und regionalpatriotischen Anspruch der Reihe. Die Spannung entsteht daraus, dass auch der Zuschauer das gesellschaftliche Problem der Alterseinsamkeit übersieht. Auf der Pressekonferenz im Polizeipräsidium trifft ein Journalist typischerweise haargenau daneben. Ob man auch einen politischen Hintergrund bedacht hat? Ein Anti-Methusalem-Komplott? Moderne Ermittler sollen auch Menschen sein. Häufig lenkt die Vermischung privater und dienstlicher Belange ab. Hier gehört sie zum Drama. Denn fürs Privatleben ist in Frankfurt eigentlich kein Platz.

Andrea Sawatzki und Jörg Schüttauf geben durch Reizbarkeit zu erkennen, dass sie an ihrer Dienststelle noch nicht ganz angekommen sind. Eben deshalb werden sie bleiben. Man kann sich das Undenkbare vorstellen: dass Frankfurt ihnen Heimat wird. Der irritierend überschaubare Nicht-Ort.

 
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