50. Grimme-Preis 2014

Tatort: Angezählt (rbb/ORF)

PreisträgerInnen

Martin Ambrosch (Buch)

Sabine Derflinger (Regie)

Adele Neuhauser (Darstellung)

Harald Krassnitzer (Darstellung)

Produktion: Superfilm Filmproduktions GmbH

Erstausstrahlung: Sonntag, 15.09.2013, 20.15 Uhr, DasErste

Sendelänge: 90 Min.

Inhalt

„Yulya hat im Leben nie eine Chance gehabt“, sagt Bibi Fellner unter Tränen zu ihrem Kollegen Moritz Eisner. Aus Bulagrien nach Österreich gelockt, musste sie für Ilhan Aziz in Wien anschaffen gehen. Doch irgendwann packte sie gegen ihren Freier aus – mit Bibbis Unterstützung. Als Aziz auf freien Fuß kommt, werden weder Yulya noch Bibbi gewarnt. Als Yulya von Aziz in der Öffentlichkeit bedroht wird, ruft sie Bibbi an. Doch die Polizistin hebt nicht ab, weil Yulyas Nummer unterdrückt ist. Aziz ist auf Rache aus und benutzt hierfür den 12-Jährigen Ivo. Der Junge bespritzt Yulya mit Benzin, als sie in einer Nebenstraße eine Zigarette raucht. Yulya fängt sofort Feuer. Sie erliegt im Krankenhaus ihren Verletzungen. Bibbi und ihr Kollege Moritz machen Ivo als Täter ausfindig. Doch als Minderjähriger ist er nicht strafmündig. Schnell wird die Verbindung zu Aziz klar. Der Zuhälter, der nebenbei einen Boxclub leitet, versprach Ivos Mutter Nora, die ebenfalls für ihn anschaffen geht, die Freiheit, wenn ihr Sohn Yulya tötet. Nora verlässt Wien umgehend, lässt aber ihren Sohn Ivo zurück. Nun ist es an Bibbi Fellner sich um den Jungen zu kümmern. „Er hat ja sonst keinen.“ Sie bringt ihn in einer Sozialeinrichtung unter, aus der er kurze Zeit später wieder flieht. Inzwischen erfährt Moritz Eisner, dass Aziz Ivos Vater ist. Der kleine Junge sucht Zuflucht in Bibbis Wohnung. Es dauert nicht lange, bis Aziz ihn dort zusammen mit Bibbi findet. Der Zuhälter verprügelt Bibbi schwer. Kurz bevor er sie von einer Brüstung stürzen kann, erschießt Ivo seinen Vater mit Bibbis Dienstwaffe.

Stab

Produktion: John Lüftner Superfilm Filmproduktions GmbH

Federführender Sender: ORF

Buch: Martin Ambrosch

Regie: Sabine Derflinger

Kamera: Christine A. Maier

Schnitt: Veronika „Niki“ Mossböck

Ton: Dietmar Zuson

Musik: Gerald Schuller

Darstellung: Harald Krassnitzer, Adele Neuhauser, Abdülkadir Tuncer, Daniela Golpashin, Murathan Muslu, Stefan Puntigam, Milka Kekic, Tatjana Alexander, Hubert Kramar 

Redaktion: Alexander Vedernjak

Jurybegründung

"Ich brauche wahrscheinlich zehn Leichen, um was zu spüren." Das sagt Ermittlerin Bibi Fellner ganz am Anfang dieses in jedem Sinne exzeptionellen „Tatort“ zu ihrer Therapeutin. Eine Lüge, natürlich. Denn eine einzige Leiche reicht, und Fellner findet sich emotional tief verstrickt in einen besonders düsteren Fall. Eine ehemalige Prostituierte wurde ermordet, angezündet von einem kleinen Roma-Jungen, der die junge rauchende Frau aus einer Wasserpistole mit Benzin anspritzte. Das Opfer war eine alte Bekannte von Fellner, die Polizistin hatte die Ex-Prostituierte einst überzeugt, gegen ihren Zuhälter auszusagen und ihr dafür Schutz angeboten.

Die Suche nach dem Anstifter zum Feuermord im Wiener Rotlichtmilieu wird für Fellner deshalb zum privaten Feldzug – und der Krimi zu einer hoch komplexen Angelegenheit: Zum einen ist „Angezählt“ ein dichtes psychologisches Drama über Schuld und Sühne, zum anderen ein detailgenaues, authentisches Stadtporträt, welches das nachtschwarze Wien als einen einzigen großen, entmenschlichten Sex-Discounter zeigt. Drehbuchautor Martin Ambrosch und Regisseurin Sabine Derflinger halten gekonnt die Waage zwischen den beiden großen Stoffen, verflechten sie perfekt ineinander.

Auf einer außergewöhnlichen Rechercheleistung aufbauend, erzählen die Filmemacher aus dem bulgarisch-türkischen Rotlichtmilieu, in dem sich junge, zum Teil aus ihrer Heimat im Balkan entführte Sexarbeiterinnen in sogenannten Tischmädchenlokalen für 30 Euro oder weniger anbieten müssen. Die Fakten werden mit trockener Härte ausgebreitet. Preise, Techniken und Machtverhältnisse in dem Elendssegment der Wiener Sexindustrie werden genau aufgeführt, niemals aber stellt der Film das Leid seiner Protagonistinnen aus.

Das ist vor allem auch den beiden großen Ermittlerdarstellern zu verdanken. Adele Neuhauser stürzt sich als Major Fellner mit ganzem Körpereinsatz in den Fall, verquickt in ihrem formatsprengenden Spiel die persönliche Leidensgeschichte der Polizistin mit denen der ausgebeuteten Prostituierten. Harald Krassnitzer als Major Moritz Eisner setzt mit wenigen Gesten die wichtigen Kontrapunkte, die seine über Grenzen gehende Partnerin immer wieder auf die Erde zurückholen. Mit der Episode „Angezählt“ haben sich Fellner und Eisner endgültig als das vielleicht stärkste Team aller „Tatorte“ etabliert: immer nüchtern in der Analyse - und doch persönlich in die Verbrechen verkeilt.

So geht in diesem „Tatort“ auch die ungewöhnliche Erzählkonstruktion auf: Der Mörder, der minderjährige Roma-Junge, ist von Anfang an bekannt. Und statt ihn zu jagen, müssen die Kommissare ihn auch noch beschützten. Dass ausgerechnet diese extrem gewagte Pointe funktioniert, zeigt noch einmal die Ausnahmestellung des Krimi-Meisterwerks inmitten der Sonntags-Täterrätsel.

 
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