40. Grimme-Preis 2004

Call me Babylon (ZDF)

Adolf-Grimme-Preis an:
Andreas Pichler (Buch/Regie)

Redaktion: Burkhard Althoff
Buch/Regie: Andreas Pichler
Produktion: filmtank hamburg, Thomas Tielsch, ZDF, Burkhard Althoff und IKON, Wessel van der Hammen
Kamera: Knut Schmitz
Sendelänge: 76 Min.
Erstausstrahlung: Montag, 24.11.2003

Inhalt

In Zeiten der multimedialen Kommunikation spielen Distanzen keine Rolle mehr. Es ist nicht erforderlich, dass sich die Gesprächspartner im selben Land befinden. In Tausenden von Telefon-Service-Zentralen, sogenannten Call-Centern, erklingen junge, freundliche Stimmen und nehmen Telefonate aus allen Kontinenten entgegen. Mit ihrer aufgeschlossenen, fachkundigen Art lösen sie scheinbar jedes Problem.
Im "Teleport" von Amsterdam befindet sich die europaweit höchste Dichte an Call-Centern. Ein Dreh- und Angelpunkt für junge Menschen, die dort nur gut ein Jahr verweilen, um dann weiter zu ziehen - in ein anderes Land, einen anderen Beruf, ein anderes Leben.
Andreas Pichler begleitet drei dieser modernen Nomaden ein Stück auf ihrem Weg - Johanna, Albert und Vincenzo. In seiner ungezwungenen Art lässt Pichler seine Protagonisten über ihren Job und ihre alltäglichen Schwierigkeiten erzählen. Er erforscht Motivationen, Pläne und Perspektiven.

Begründung der Jury

Ein modernes Niemandsland. Autobahnen, Startbahnen, Hafenmolen, Leitplanken, Büro-Dutzendware. Der scheinbar ideale Platz für anonyme Dienstleistungen wie telefonische Service-Zentralen. Der begrifflich vorsortierende Verstand sagt sofort: Entfremdung, Globalisierung, Flexibilität, Abruf, Ausbeutung - eine Arbeitswelt des mobilen Horrors, der Entwurzelung, der elektronisch gesteuerten Flüchtigkeit.
Andreas Pichler entdeckt in seinem Film für die Reihe "Absolute Beginner - Der erste Job" des "Kleinen Fernsehspiels" auch ganz anderes: Es gibt richtiges Leben im scheinbar falschen Ganzen. Drei junge Leute beobachtet er, in einer stark rhythmisierten Erzählung, in einer fließenden Zeit- und Szenen-Collage: bei ihrer Arbeit im auf Computer-Service für eine Fastfood-Kette spezialisierten, Call-Center auch bei ihrer Freizeit, bei ihrem Versuch, Privates aufzubauen und nicht zu verlieren, selbst wenn Arbeits- und Lebensplatz zeitlich und räumlich immer und überall entgrenzt scheinen und der Sprachraum universell ist.
Die Protagonisten des Films: gerade über 20, aus Deutschland, England, Italien nach Amsterdam gekommen, einem Dorado für international vernetzte Dienste der flüchtigen Leichtigkeit des Seins. Ihre Lebensläufe sind kaum verknotet - die Plätze im Großraumbüro am Bildschirm sind zunächst nichts als Additionen, Durchgangsstationen der Job-Hopper. Aber sie sind auch verbunden: durch das hochmoderne Lebensgefühl. Und gleichzeitig eröffnen sie Parallelräume: Denn natürlich sind die Temperamente verschieden, gibt es individuelle Konflikte, Entwicklungen, Kontakte, Wünsche, Träume, Trennungen - Wege, Nebenwege, denen Pichler mit seinem wendigen Kameramann Knut Schmitz folgt.
Damit gelingt ihm ein Film, der sorgfältig komponiert ist, der Individualität nicht ausschließt und ihr an Scharnierstellen erzählerischen Raum gibt, der aber gleichzeitig auch ganz bewusst den Reiz des Nebenbei, des Flüchtigen, der spontanen Beobachtung transportiert. Und der ebenso bewusst auf gesellschaftskritische Analyse und politische Orientierungslinien verzichtet. Das verhindert aber keineswegs eine dokumentarische Haltung. Damit gelingt Pichler eindrucksvoll ein zugleich präzises und offenes Porträt moderner Arbeits- und Lebenswelten - ohne jeden ideologischen Krampf.

 

 
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