53. Grimme-Preis 2017

Das Konzept von Mitten in Deutschland: NSU (Teil 1-3) (SWR/WDR/BR/ARD Degeto/MDR)

Grimme-Preis an

Gabriela Sperl (Konzept)

Produktion: Gabriela Sperl Produktion für Wiedemann & Berg Television

Erstausstrahlung: ab Mi, 30.03.2016, 20.15 Uhr, DasErste

Sendelänge: Teil 1: 102 Minuten; Teil 2: 95 Minuten; Teil 3: 92 Minuten

Stab

Buch: Thomas Wendrich (Teil 1), Laila Stieler (Teil 2), Rolf Basedow, Christoph Busche, Jan Braren (Teil 3)

Regie: Christian Schwochow (Teil 1), Züli Aladag (Teil 2), Florian Cossen (Teil 3)

Kamera: Frank Lamm (Teil 1), Yoshi Heimrath (Teil 2), Matthias Fleischer (Teil 3)

Darsteller: Anna Maria Mühe, Albrecht Schuch, Sebastian Urzendowsky, Nina Gummich, Jonas Friedrich Leonhardi, Ben Münchow (Teil 1); Almila Bagriacik, Uygar Tamer, Orhan Kilic, André M. Hennicke, Tom Schilling, Sascha Alexander Gersak, Özgür Karadeniz, Vladimir Burlakov, Mert Dincer, Emilio Sakraya Moutaoukkill (Teil 2); Florian Lukas, Sylvester Groth, Liv Lisa Fries, Florian Stetter, Martin Baden, Ulrich Noethen, Alexander Beyer, Christian Kuchenbuch, Anna Brüggemann, Christian Berkel (Teil 3)

Redaktion: Martina Zöllner (SWR), Ulrich Herrmann (SWR) - Teil 1; Dr. Barbara Buhl (WDR), Götz Bolten (WDR), Corinna Liedtke (WDR) – Teil 2; Claudia Simionescu (BR), Harald Steinwender (BR) – Teil 3; Christine Strobl (ARD Degeto) – Teil 1-3; Jana Brandt (MDR), Johanna Kraus (MDR) – Teil 1-3

Inhalt

Jena 1990, nach dem Zusammenbruch der DDR ist nichts wie es vorher war. Wo zuvor sozialistische Ideale beschworen wurden, gibt es nun Meinungspluralismus. Wo Planwirtschaft regierte, herrscht der freie Markt. Wo offiziell jeder einen Job hatte, droht die Massenarbeitslosigkeit. Viele junge Menschen zieht es nach Westdeutschland; wer zurückbleibt in Jena, sucht zwischen Jugendheim, Arbeitsamt und neuen Einkaufswelten nach Orientierung.

So auch Beate Zschäpe (Anna Maria Mühe). Den Lehrern in der Schule zeigt sie ihre Verachtung, im Supermarkt klaut sie Westprodukte, in der Hausbesetzerszene säuft sie zu Punkrock und im Jugendheim tanzt sie zu Oi!-Musik mit Skinheads. Unter den Skins ist auch Uwe Mundlos (Albrecht Schuch), mit dem sie bald ihre gesamte Zeit verbringt. Er führt sie in die rechtsradikale Szene ein, eine Liebesbeziehung vor braunem Hintergrund.

Nachdem Mundlos seinen Dienst bei der Bundeswehr angetreten hat, wendet sich Zschäpe Uwe Böhnhardt (Sebastian Urzendowsky) zu, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Die beiden haben ein Verhältnis, das von Sex und Gewalt bestimmt wird. Als Mundlos vom Bund zurückkehrt, bilden die drei eine Zelle, aus der heraus sie größere Straftaten planen. In einer angemieteten Garage lagern sie Sprengstoff. Das Versteck fliegt auf, das Trio geht in den Untergrund.

Begründung der Jury

Mindestens zehn Menschen tötete der NSU. Wie konnte es soweit kommen? Der Dreiteiler „Mitten in Deutschland – NSU“ nimmt diese Frage auf und versucht eine Erklärung anzubieten – aus drei verschiedenen Perspektiven. Wie hat sich das NSU-Trio radikalisiert? Warum standen die Opferfamilien selbst jahrelang unter Verdacht? Und wie hat der Verfassungsschutz seine Finger im Spiel? 

Die Reihe greift auf, was wir über die Mordserie wissen. Sie liefert eine eigene, manchmal vorsichtige Interpretation – und wird damit Teil der öffentlichen Aufarbeitung der größten rechtsradikalen Mordserie in der Geschichte der Bundesrepublik. Dass diesem Projekt eine aufwendige Recherche voranging, ist gerade in den Details immer wieder spürbar. Am Ende stellt das Werk mehr Fragen als es Antworten geben kann. Woher dieser brutale Hass kommt, ist nicht erklärbar. Wie die Opfer für ihr Leid entschuldigt werden können, auch nicht. Beweise verschwinden, Zeugen sterben. Eigentlich wissen wir nichts. Das zeigen die drei Filme in beeindruckender Weise und regen im besten Sinn zum Zweifeln an.

Die Täter, die Opfer, die Ermittler: Alle drei Filme sind eigenständige Kunstwerke. Sie haben jeweils ihre eigene ästhetische und politische Erzählweise gefunden.  Und jeder Teil hat seine eigenen Fallstricke. Die Filme sind nicht fehlerlos und gehen nicht alle gleich gut mit ihren dramaturgischen Herausforderungen um. Dass die Filme aber erst im Zusammenspiel einen Einblick in den Komplex NSU geben, ist eine große Stärke des Konzepts. Alle drei Perspektiven sind zwingend. Keinen Film würde es ohne die anderen geben.

Oft dreht sich alles um Beate Zschäpe in der öffentlichen Debatte. Die Perspektive der Hinterbliebenen spielt allenfalls eine Nebenrolle. „Die Opfer – vergesst uns nicht“ – als Mittelstück und Requiem – ist damit von besonderer Bedeutung. Dieser Aufgabe wird der Film inhaltlich wie künstlerisch gerecht. Als Antwort auf den Täterfilm wirkt der zweite Teil mit seiner poetischen Bildsprache fast wie ein Befreiungsschlag.

Fünf Jahre nach Auffliegen folgte mit „Mitten in Deutschland – NSU“ eine der ersten künstlerischen Arbeiten zu diesem Thema. Dieses anspruchsvolle Großprojekt ist zum großen Teil Verdienst der Produzentin Gabriela Sperl. Sie führte die Künstlerinnen und Künstler zusammen für drei höchst unterschiedliche Filme. Sie brachte die ARD-Anstalten an einen Tisch, sodass der Dreiteiler im Programm seinen Platz fand. 

Wir stehen am Anfang der Aufarbeitung und wohl auch am Anfang einer künstlerischen Auseinandersetzung mit den Morden des NSU und den gesellschaftlichen Folgen. „Mitten in Deutschland – NSU“ hat dafür einen Maßstab gesetzt.

 
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