53. Grimme-Preis 2017

Das weiße Kaninchen (ARD)

Grimme-Preis an

Michael Proehl (Buch)

Holger Karsten Schmidt (Buch)

Florian Schwarz (Regie)

Philipp Sichler (Kamera)

Devid Striesow (Darsteller)

Lena Urzendowsky (Darstellerin)

Produzenten: FFP New Media GmbH (Michael Smeaton, Dr. Simone Höller)

Erstausstrahlung: Mi, 28.09.2016, 20.15 Uhr, DasErste

Sendelänge: 89 Minuten

Stab

Buch: Michael Proehl und Holger Karsten Schmidt 

Regie: Florian Schwarz 

Kamera: Philipp Sichler

Schnitt: Florian Drechsler

Ton: Michael Eiler

Musik: Sven Rossenbach und Florian van Volxem

Szenenbild: Károly Pákozdy

Kostümbild: Ivana Milos

Darsteller: Devid Striesow, Lena Urzendowsky, Shenja Lacher, Louis Hofmann u.v.a.

Redaktion: Claudia Gerlach-Benz

Producer: Greta Gilles (FFP New Media GmbH)

Inhalt

Vertrauenslehrer Keller (Devid Striesow) weiß, wie man Jugendliche für sich gewinnt. Der engagierte Medienpädagoge zeigt ihnen, wie sie im Internet zur Beute skrupelloser Erpresser werden. „Für Kriminelle seid ihr eine Ware“, warnt er. Der dreizehnjährigen Sara (Lena Urzendowsky) begegnet er beim Streifzug im Chat – als siebzehnjähriger Benny. Keller weiß eben auch, dass kleine Mädchen an der Schwelle zur Pubertät niedliche Avatare lieben und alles, was flauschig ist. In Wirklichkeit sind seine Absichten grundböse. Er ist der Wolf im Schafspelz, ein brutaler Pädophiler, für den das Spiel mit falscher Identität Teil des Kitzels bedeutet. Er ist das weiße Kaninchen aus Alice im Wunderland, das das Mädchen in ein Erdloch lockt. Sara wirkt wie das perfekte Opfer. Sie hat Kummer, den sie den Eltern nicht anvertrauen mag, wenig Anschluss, noch keine Flirterfahrung, interessiert sich aber für die coolen Typen. Wie den sanften Kevin, (Louis Hofmann), der sie zum oben-ohne-Posieren verführt und dann mit dem Foto erpresst. Aus dem Handel mit Selbstbefriedigungsvideos hat er ein Geschäftsmodell gemacht. Zum Glück kennt „Benny“ den hilfreichen Pädagogen Keller. Aber auch eine Sondereinheit der Polizei ist auf „Kevin“ aufmerksam geworden.

Begründung der Jury

Obwohl von erschreckender Tagesaktualität geprägt, ist dies kein naturalistischer Film. So überraschend wie überzeugend wirkt die Entscheidung des Buchs und der Inszenierung, die Perspektive ihrer weiblichen Hauptfigur in eine Vielzahl von doppelbödigen Jungmädchenimaginationen aufzulösen. Es geht um Manipulation, in mehr als einer Hinsicht. Als Betrachter wird man so mit in das Kaninchenloch gezogen, an dessen Ausgang ins Wunderland sich für Alice die Verhältnisse grundlegend auf den Kopf stellen. Hier heißt Alice Sara, und leider trifft sie keinen verrückten Hutmacher, sondern Männer, die sie zur Selbstentblößung und sexuellen Erniedrigung drängen. 

In epischem Cinemascopeformat gedreht (Bildgestaltung Philipp Sichler), ist „Das weiße Kaninchen“ ein überaus garstiges Märchen aus der heutigen Zeit, in dem das einsame Kind an der Schwelle zum Erwachsensein umstandslos dem Verderben überantwortet wird. Wie auf einer schiefen Ebene erzählt der Film als drastisches Generationen-Aufklärungsstück die Geschichte Saras, deren Eltern zwar bemüht und zugewandt sind, aber von den Gefahren, die ihrer Tochter durch „Cybergrooming“ – der onlinebasierten Anbahnung des sexuellen Missbrauchs eines Kindes – im Internet drohen, genauso wenig Ahnung haben wie der Betrachter. Darüber hinaus beeindruckt die Virtuosität der Perfidie, mit der Regisseur Florian Schwarz und die Autoren Michael Proehl und Holger Karsten Schmidt den Zuschauer am Gängelband des Zweifels durch die zahlreichen Wendungen der Handlung führen. Sie ist grundlegend für die grandios unbehagliche Atmosphäre des Films. 

Die Unsinnlichkeit des Internetraums wird dabei in nachhaltige sinnliche Bilder und Szenerien übersetzt. Chaträume werden als romantischer, das Firmament überspannender Teenagertraumhimmel visualisiert, in dem es auf beiden Seiten nur noch ein einziges Du und ein Ich mit Tastaturen gibt und sonst nichts als sternenfunkelnde Dunkelheit. Surreale Avatare treten im bonbonbunten Neoncafé in Katzenkostümen auf, ein Hund serviert Katze und Kater Milch; jedes übers Internet gesendete Wort der scheinintimen Konversation zwischen einem jungen Mädchen und ihren vermeintlichen Freunden bekommt in der gesprochenen Doppelung Ewigkeitswert und Deutungsspielraum. Klartext geredet wird dabei mehr als genug, auch sind manche Szenen von solch beklemmender Anschaulichkeit, dass man am liebsten die Augen abwenden möchte, gleichzeitig gebannt auf den schlimmen Ausgang der Geschichte wartet – und vergeblich das Gegenteil hofft. Fantasie trifft auf Realität. Das Internet ist auch Metapher in diesem Spiel. Wie zeigen sich Menschen, wenn sie ihrer Masken beraubt sind? Hier: als gnadenlose Raubtiere auf Beutefang.

 
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